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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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locken.«
    Von der anderen Seite des Grats und somit auch jenseits der Vögel stiegen vier schmale Rauchfahnen auf, was auf eine Ansiedlung schließen ließ. Yao gab Corbett ein Zeichen und machte sich an den Rest des Aufstiegs.
    Shan lehnte sich gegen eine Felswand, wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte den Männern hinterher. Sie hatten erst ungefähr zweihundertfünfzig Meter zurückgelegt, als der Amerikaner jählings erschrak. Vier kleine Gestalten, lediglich Kinder, sprangen mit Knüppeln zwischen den Felsen hervor und stürzten sich auf die beiden Männer.
    Als Shan bei ihnen eintraf, hatte Corbett sich vor einem Geröllblock zusammengekauert und die Hände schützend auf dem Hinterkopf verschränkt. Zwei kleine Mädchen prügelten auf ihn ein. Zwar fluchte er bei jedem einzelnen Treffer, leistete aber keinen Widerstand. Yao versuchte vergeblich, sich gegen die beiden Jungen zu wehren, die ihn an einen Vorsprunggedrängt hatten. Er entriß einem von ihnen den Knüppel, hielt abrupt inne, starrte auf das Ding in seiner Hand und warf es voller Abscheu zu Boden. Es war ein menschlicher Oberschenkelknochen, allerdings nicht so alt und gelblich verfärbt wie die Exemplare, die er in Zhoka gesehen hatte.
    Die Jungen kamen wieder näher. Yao war nach seinem Fund wie gelähmt, und in seinem Blick lag Angst. Shan stellte sich schützend vor den Inspektor, spannte die Muskeln an und rechnete mit dem ersten Schlag, doch eines der Kinder, ein Junge von höchstens acht Jahren, rief etwas, wies auf Shans Brust und ließ den Knüppel sinken. Die anderen taten es ihm mit großen Augen nach. Dann wichen sie alle ein paar Schritte zurück, machten kehrt und rannten den Pfad hinauf.
    Shan sah nach unten. Der Junge hatte auf sein gau gezeigt, das silberne tibetische Medaillon, das um Shans Hals hing. Bei dem hektischem Lauf den Hang hinauf war es unter dem Hemd hervorgerutscht. Als er nun wieder aufblickte, waren die Kinder verschwunden.
    »Wie Phantome«, sagte Corbett, erhob sich und rieb sich eine Stelle am Arm. »Die waren wie aus dem Nichts plötzlich da. Wer … warum haben sie …« Seine Stimme erstarb, denn er sah die Kinder in der Nähe des Kamms auftauchen und zu dem Felsennest laufen.
    »Diese Leute bleiben bei ihrer Arbeit am liebsten für sich«, sagte Shan. »Sogar unter den Tibetern gelten die ragyapas als ein eigenes Volk. Das ist schon seit Jahrhunderten so. In gewisser Weise sind sie Ausgestoßene, aber sie akzeptieren es, denn sie erfüllen eine heilige Pflicht. Außenstehende oder Touristen haben dabei nichts zu suchen. Sogar die anderen Tibeter liefern bloß die Toten im Dorf ab und hinterlassen eine Bezahlung.«
    Corbett musterte die Vögel, die über dem runden Felsvorsprung kreisten. »Mein Gott, ich habe davon gelesen«, sagte er erschaudernd. »Ich hätte nie gedacht … immerhin befinden wir uns im einundzwanzigsten Jahrhundert. Das da stammt aus einer anderen Zeit.«
    »Es ist ein durtro «, sagte Shan und deutete auf den Vorsprung.Die ragyapas zerlegten dort die Leichen, indem sie ihnen nicht nur das Fleisch abzogen, sondern sogar die Knochen zerstampften, damit die Geier sie verzehren konnten.
    »Falls jemand einen Mord begehen will, kann er auf diese Weise das Opfer beseitigen«, stellte Yao verärgert fest. »Damit wird Tibet zum Paradies für Schwerverbrecher«, fügte er hinzu und zückte das Funkgerät.
    »Ein durtro ist ein Ort großer Andacht«, warnte Shan. »Bloß keine Hubschrauber.«
    »Knochen mahlen und an Vögel verfüttern«, gab Yao mürrisch zurück. »Schlachterhandwerk. Tan sagte, die Leute hier oben stünden mit einem Bein in der Steinzeit.«
    »Sie geben die Körper an die Erde zurück«, sagte Shan und verfolgte, wie mehrere Gestalten von dem Felskreis wegrannten und hinter der Kammlinie verschwanden. Die Leute flohen vor ihnen.
    Als sie bei den aus Stein und Holz errichteten Häusern jenseits des durtro eintrafen, schien alles verlassen zu sein. Schweigend gingen sie in Richtung des Vorsprungs weiter. Man hatte dort mehrere Leinen mit Gebetsfahnen gespannt, und über ihnen lauerten die Vögel. Yao beschleunigte seinen Schritt und trat als erster in den Kreis aus riesigen Felsblöcken. Als Shan und der Amerikaner ihn erreichten, stand er einfach nur da. Es hatte ihm die Sprache verschlagen.
    »Herr im Himmel«, murmelte Corbett. Dann wurde er blaß, hob eine Hand vor Nase und Mund und zog sich aus dem Felskreis zurück.
    In der Mitte der kleinen Freifläche kniete

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