Der verlorene Sohn von Tibet
ein schmaler, grobknochiger Mann und starrte ihnen zornig entgegen. In der einen Hand hielt er eine lange schwere Klinge, in der anderen einen intakten menschlichen Arm. Hinter ihm, auf dem höchsten Felsen der gegenüberliegenden Seite, hockten drei Geier und schienen ebenso finster dreinzuschauen wie er. Shan bemühte sich, den Fremden nicht aus den Augen zu lassen, aber sein Blick machte sich selbständig und nahm immer mehr grausige Einzelheiten wahr. Ein menschliches Knie mit Oberschenkel und Schienbein. Eine Hand, deren Fingern bereits dasFleisch fehlte. Eine Wirbelsäule, an der blutige Gewebefetzen hingen.
»Wen hat man aus Zhoka gebracht?« rief Yao. »Wir verlangen die Leiche aus Zhoka.«
Die einzige Reaktion des Mannes bestand darin, daß er den Arm auf den Hackklotz legte und mit einem schnellen Hieb am Ellbogen durchtrennte.
»Ich bezweifle, daß er Chinesisch spricht«, sagte Shan.
»Dann fragen Sie ihn eben«, herrschte Yao ihn an.
Shan fixierte die Geier. »Bei uns im Straflager saß auch ein ragyapa . Er hatte einen chinesischen Touristen getötet, weil dieser den Vater des Mannes bei der Arbeit fotografieren wollte.«
»Sie haben uns hergeführt«, erklärte Yao barsch. »Kommen Sie mir also nicht mit irgendwelchen Schauergeschichten.«
»Der Mann sagte, das Zerlegen der Leichen sei für viele seines Volkes wie eine Meditation. Er behauptete, er habe in seiner Hand, die das Fleisch abzog, mitunter die Anwesenheit eines Gottes gespürt. Auch wenn ein Tibeter sich im Leben vom Buddhismus abgewandt haben mochte, sei sein Himmelsbegräbnis am durtro eine Rückkehr zum Glauben. Und der Vater könne beim Zerhacken der Toten bisweilen sogar mit Buddha persönlich sprechen.«
Yao verzog das Gesicht. »Diese Leute sind doch keine Priester.«
»Ich weiß nicht so recht«, sagte Shan nach einem langen Blick auf den ragyapa . »Auch in China gibt es alte Geschichten über Menschen, die den Schmerz und Kummer der anderen auf sich nahmen, damit diese in Frieden leben konnten.« Er schaute noch einmal zu dem Mann mit dem Hackmesser. »Diese Leute sind auch so. Wie die Priester, die bei einem Sterbenden sitzen. Aber die ragyapas tun es jeden Tag, voller Ehrfurcht, ihr ganzes Leben lang. Wie kann ein Mensch eine solche Last ertragen?«
Shan ließ ihn stehen und ging nach draußen zu Corbett. Yao fluchte, gesellte sich aber kurz darauf zu ihnen und blickte nervös über die Schulter zurück.
»Diese Leute haben niemandem etwas getan. Sie leben hier und verrichten wie immer ihre Arbeit«, sagte Shan, wenngleich er nicht verstand, wie das Dorf dabei überleben konnte. Es war auf die Gaben der Hinterbliebenen angewiesen, doch die Bevölkerung des südlichen Hügelgebiets schien nicht besonders zahlreich zu sein. Er schaute zurück zum durtro . Vielleicht hatte man sogar zwei Leichen aus Zhoka hergebracht. Er wußte nicht, was aus dem alten Atso geworden war.
»Barbaren«, sagte Yao. »Wie können wir so etwas in China überhaupt zulassen?«
»Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen, Inspektor«, sagte Shan nach einem Moment. »Was auf dieser Welt kennen Sie sonst noch, das seit tausend Jahren unverändert geblieben ist? Ich glaube, um die Arbeit dieser Leute zu verrichten, ein Leben lang, über zahllose Generationen hinweg, bedarf es einer Eigenschaft, die kaum etwas mit Barbarei zu tun hat.«
Yao schnaubte verächtlich und ging zurück in Richtung der Häuser.
Corbett blieb und sah Shan mit leuchtenden Augen an. »Gebete«, sagte der Amerikaner leise und unsicher. Sein Blick wanderte respektvoll und forschend über das Dorf. »Wie das auf dem Stein vorhin. Die ändern sich nie, oder?«
Shan ertappte sich dabei, daß er Corbett staunend ansah, als würden sie einander zum erstenmal begegnen. »Es ist eine Art Kunst«, sagte Shan. Die Rätsel von Zhoka ließen ihn nicht los. »Die Übertragung der eigenen Gottheit auf ein Stück Stoff oder Papier.«
Merkwürdigerweise nickte Corbett lächelnd, als habe er genau diese Antwort erwartet.
Sie gingen ebenfalls zum Dorf. Yao stand vor der schlichten Brettertür des ersten Gebäudes und inspizierte einige Werkzeuge, die dort an der Wand lehnten: eine Hacke mit krummem Griff, eine Axt, einen Ledereimer.
»Eindeutig das Versteck einer internationalen Diebesbande«, stellte der Amerikaner fest.
Weitere Geier tauchten auf und flogen in geringer Höhe über das Dorf hinweg, als spürten sie die Besucher und rechnetenmit einer neuen Mahlzeit. Zwischen den Felsen
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