Der verlorene Sohn von Tibet
unterhalb der Häuser ertönte ein Ruf. Shan konnte die Worte nicht verstehen, aber der warnende Tonfall war unverkennbar.
Eine einzelne Ziege kam in Sicht, lief von Haus zu Haus und blieb mehrmals stehen, um die Eindringlinge zu beäugen. Beim vierten Eingang steckte sie ihre Schnauze in einen Haufen Decken, die neben der Tür lagen. Die Decken bewegten sich, und eine hagere Hand kam daraus hervor, um den Hals des Tiers zu streicheln.
Shan hob den Arm, mahnte seine Begleiter zur Vorsicht und ging langsam näher. Die Ziege blickte auf, betrachtete ihn mit geneigtem Kopf und vergrub die Nase schnell zwischen den Decken. Ein trocken rasselndes Lachen erschallte, eine zweite knochige Hand tauchte auf, und beide Hände legten sich zärtlich um den Kopf des Tiers.
Die alte Frau, die sich aus den grauen Decken erhob, trug ein zerlumptes Filzkleid von genau der gleichen Farbe, schwere silberne Ohrringe und ein silbernes gau , das an einer Kette aus dicken Türkisperlen um ihren Hals hing. Ihr Haar war von grauen Strähnen durchzogen, ihr Gesicht mit Altersflecken übersät. Ihre Augen starrten milchig ins Leere. Sie war blind.
»Zwei Chinesen«, verkündete sie belustigt, zögerte dann und hob den Kopf, als würde sie Witterung aufnehmen. »Und noch ein Außenseiter, aber kein Chinese.« Die Ziege drehte sich um und drückte sich fest an die Seite der Frau, als wolle sie die Alte verteidigen. Shan streichelte das Tier. Der Kopf der Frau bewegte sich einen Moment lang hin und her, richtete sich auf Shan, und dann packte sie plötzlich seinen Arm. »Bist du vorbereitet?« fragte sie auf chinesisch.
»Worauf denn?« platzte es unwillkürlich aus Corbett heraus, noch dazu auf englisch.
Die Frau hielt inne. Dann erschien ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht und enthüllte zwei fast zahnlose Kiefer. »Alles Gute«, rief sie mit schwacher Stimme – und gleichfalls auf englisch.
Die drei Männer sahen einander verblüfft an.
»Sie sprechen Englisch?« fragte Corbett.
» Inchi ?« fragte die Frau aufgeregt.
»Sie möchte wissen, ob Sie Engländer sind«, übersetzte Shan.
»So was Ähnliches«, sagte Corbett. »Wie kann es sein, daß sie Englisch spricht?«
»Alles Gute«, wiederholte die Frau auf englisch und diesmal etwas lauter. Dann lächelte sie Shan an. »Meistens sprechen wir mit den Ziegen«, sagte sie nun wieder auf chinesisch.
»In Zhoka ist ein Mann gestorben«, sagte Shan. »Vielleicht hat man ihn hergebracht. Wir müssen mehr über seinen Tod erfahren.«
»Der Tod hat derzeit viel zu tun«, seufzte die Frau. »Onkel Yama weilt diesen Sommer in den Hügeln.«
Shan befiel ein eisiges Frösteln. Sie sprach von dem Herrn der Toten.
»Wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn es um die Toten geht«, sagte die Frau nun zu der Ziege, deren Kopf sie erneut mit beiden Händen umschlossen hatte. Dann griff sie nach der Gebetskette an ihrem Gürtel und senkte abrupt den Kopf, als sei sie eingeschlafen.
Yao setzte seine Untersuchung des Geländes fort und hob die Deckel der Tontöpfe an, die vor dem Nachbarhaus aufgereiht standen, dem größten Gebäude des Dorfes. Shan kniete sich dichter neben die Frau. »Großmutter«, flüsterte er, »ich suche einen alten Mann, ein Mädchen und eine Frau namens Liya.« Die Ziege drückte Shans Schulter mit dem Kopf beiseite, als wolle sie ihn verscheuchen.
»Liya«, sagte die Frau, ohne den Kopf zu heben. »Sie versucht, mit je einem Bein in beiden Welten zu stehen, und wird dabei immer mehr in die Länge gezogen. Ich bete für Liya.«
»Der Engländer«, unterbrach Corbett auf chinesisch. »Haben Sie ihn gesehen? Er nennt sich Lodi.«
Ein trockenes Rasseln erklang aus dem Hals der Frau. »Bald ist sie so dünn, daß sie gar nichts mehr sieht«, sagte sie mit traurigem Lächeln, widmete sich der mala und flüsterte der Ziege ein Mantra ins Ohr. Das Tier setzte sich zufrieden auf die Hinterläufe, als käme das Gebet ihm äußerst gelegen.
Yao stand nun bei dem letzten der großen Tonbehälter,gleich neben der Haustür. Shan ging gemächlich hinterher und legte die Deckel, die Yao achtlos fallen gelassen hatte, behutsam zurück auf die Töpfe. Die ersten beiden Gefäße enthielten Gerste, das dritte irgendein weißes Knollengewächs, und dann folgten kleine runzlige Äpfel und schwarze Teeziegel. Während Shan noch unterwegs war, holte der Inspektor seinen Schreibblock hervor und fing an, sich eifrig Notizen zu machen. Corbett traf unmittelbar vor Shan bei dem letzten
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