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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Behälter ein und gab einen Laut des Erstaunens von sich.
    In dem großen Tontopf lagen ein kleiner schwarzer Kassettenrecorder, ein Akkurasierer und ein Haartrockner.
    »Wie Sie schon sagten, hier hat sich seit tausend Jahren nichts mehr verändert«, merkte Yao sarkastisch an.
    Shan nahm den Recorder. Das Gerät war staubbedeckt. Er drehte es um. Die Batterien im Innern waren korrodiert. Er legte es zurück und nahm den Fön. Daran hing ein Kabel mit Stecker, doch in mindestens dreißig Kilometern Umkreis gab es keine einzige Steckdose. Als Shan den Haartrockner sinken ließ, fiel ihm zum erstenmal ein kleines Gebilde auf, das direkt über dem Gefäß von einem Dachbalken baumelte. Es bestand aus Zweigen, die man zu einem Rahmen zusammengebunden und mit bunten Schnüren bespannt hatte. Das Garn war zu einem Rautenmuster geflochten, so daß genau in der Mitte ein kleiner roter Diamant leuchtete.
    »Was ist das?« fragte der Amerikaner.
    »Eine Geisterfalle«, erklärte Shan. »Man fängt damit Dämonen.« Er trat näher. Die Falle schien neu zu sein.
    »Da ist noch eine«, sagte Corbett nervös und wies auf ein weiteres Exemplar, das unauffällig unter der Traufe hing. Sie schauten zu den anderen Häusern. Jedes war mit ein oder zwei Geisterfallen ausgestattet. »Wenn man ragyapa ist und tut, was diese Leute tun«, sagte der Amerikaner nachdenklich, »vor welchem Dämon sollte man da wohl noch Angst haben?«
    Yao hatte sich ein Stück entfernt und schaute den Hang hinunter zu einer kleinen Holzbaracke in etwa fünfzig Metern Entfernung. Sie stand im Schatten zweier alter, vom Wind gekrümmter Wacholderbäume. Im Eingang sah man ein ragyapa -Mädchenstehen. Es wandte den drei Fremden den Rücken zu und blickte in die Hütte. Shan lief los, dicht gefolgt von dem Amerikaner.
    Das Mädchen bemerkte sie erst, als sie nur noch wenige Schritte von dem Schuppen entfernt waren. Mit ängstlicher Miene wirbelte sie herum und erstarrte, rang mit offenem Mund nach Luft und rannte dann so schnell wie möglich zu dem nächstgelegenen Felsvorsprung. Eine Frau in rotem Kleid trat hervor und riß das Kind in die Arme.
    Shan erreichte die schlichte Brettertür als erster. Sie stand einen Spalt offen. Von drinnen ertönte eine monotone Litanei, und man roch süßen schweren Weihrauchduft. Shan stieß die Tür auf. Der einzige Raum der Hütte wurde durch vier Butterlampen spärlich erhellt. Drei davon standen vor einem offenen peche . In einer der Ecken saß ein Mädchen vor der Wand und schlief. Der Mann, der aus dem Buch vorlas, stockte nur kurz, bedachte Shan mit einem bekümmerten, vertrauten Lächeln und las weiter. Es war Lokesh. Shan sah noch einmal zu dem Mädchen und erkannte schließlich eine schmutzige, erschöpfte Dawa mit wirrem Haar, zerrissenem Kleid und Erde an den Händen. Ihr Mund bewegte sich, spannte sich an und wurde wieder locker. Womöglich schlief sie gar nicht, begriff Shan. Vielleicht hatte sie einfach nur Angst, denn Lokesh las den Bardo, die Todesriten, und vor ihm an der Rückwand hing der Schemen eines Toten.
    Eine Hand schloß sich um Shans Unterarm. Es war Yao, der sofort fest zudrückte. Shan wollte sich schon verärgert wieder losmachen, weil er glaubte, Yao rechne abermals mit einem Fluchtversuch, doch dann sah er dem Inspektor ins Gesicht. Yao betrachtete Lokesh und das seltsame Abbild mit angespannter, besorgter Miene. Zum erstenmal entdeckte Shan Unsicherheit in seinem Blick.
    Das anderthalb Meter große Gebilde war die primitive, aus Zweigen gefertigte Darstellung eines Menschen, bekleidet mit einem braunen Hemd. Jeder hölzerne Arm maß etwa fünfzig Zentimeter Länge, und zwei senkrechte Äste dienten als Beine. An einem der Arme hingen eine teure Uhr und eine Kordel mitdrei goldenen Ringen. Als Kopf hatte man ein Stück beigefarbenen Stoff über einen kleineren Holzrahmen gespannt und dann über dem Hemd festgebunden. Augen, Ohren und Mund waren mit Holzkohle aufgemalt. Dann hatte man etwas Farbe hinzugefügt, offenbar mit Hilfe von Wachsmalstiften: braunes Haar, rote Kreise auf den Wangen, braune Wimpern.
    Hinter ihnen regte sich etwas. Shan drehte sich nicht um, hörte jedoch, wie der Amerikaner erschrocken stöhnte.
    Das schlichte Abbild besaß eine makabre Wirkung, eine beklemmende, ziemlich abschreckende Ausstrahlung. Shan konnte verstehen, weshalb Dawa die Augen geschlossen behielt. Die alten Lamas im Gulag hatten von diesem Brauch erzählt, aber Shan war noch nie leibhaftig dabeigewesen.

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