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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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seine Hochachtung zu erweisen.«
    Der Amerikaner runzelte die Stirn und schaute erwartungsvoll Yao entgegen, als hoffe er auf Rettung.
    »Vor zwei Jahren wurde an einer Straße in der Nähe von Lhasa ein alter Mann mit einer goldenen Statue aufgegriffen. Um die Figur erstehen zu können, hatte er all seine Besitztümer verkauft. Nun wollte er sie auf einem heiligen Berg deponieren, um auf diese Weise Verdienste für die Seele seiner toten Frau zu erwerben. Er war überzeugt, sie sei gestorben, weil er die stets über ihrem Haus flatternden Gebetsfahnen abgeschnitten hatte, um mit dem Seil ihre letzten beiden Schafe anzubinden. Man nahm ihn fest, denn er hatte jemandem erzählt, er habe seine Frau getötet. Ein anderer sagte aus, der Alte habe einem Mann Geld für den Tod der Frau gegeben. Gemeint war der Kaufpreis der Figur, den er beim Goldschmied entrichtet hatte, aber niemand machte sich die Mühe, das genauer zu erläutern. Man beschuldigte ihn, die Statue gestohlen zu haben, und er stritt es nicht ab, denn das Haus, das er verkauft hatte, um sie zu erwerben, hatte seiner Frau gehört.«
    »Was ist dann passiert?«
    »Er wurde ins Gefängnis gesteckt und ist nach drei Monaten gestorben.« Shan sah Corbett durchdringend an. »Für die Behörden paßten die Fakten lückenlos zusammen. Er sagte, er habe seine Frau getötet und dann wegen des Todes Geldbezahlt. Und er kam sich mit der Statue wie ein Dieb vor.« Shan deutete auf einen schmalen Felsvorsprung oberhalb der Steinsäulen. Darauf standen mehrere verwitterte Heiligenfiguren. »Das dort ist die Wahrheit dieses Ortes. Die Menschen hier richten ihr Leben nach Wahrheiten aus, nicht nach Fakten.«
    »Und welcher Wahrheit sollte ich folgen?« fragte der Amerikaner mit Blick auf die kleinen Statuen.
    »Gottestöter«, sagte Shan und erklärte ihm schnell, was mit den Schreinen geschehen war.
    Als sie eine Stunde später einen steilen Hang hinabstiegen, stellte Yao sich Shan in den Weg und stoppte ihn mit erhobener Hand. »Es reicht«, knurrte der Inspektor. »Wollen Sie uns etwa in die Irre führen und dann mitten in der Wildnis zurücklassen? Sie werden mir jetzt eine Wegbeschreibung liefern, die ich an den Helikopter durchgeben kann.« Die Hochsommertage waren lang, doch trotz allem blieben ihnen höchstens noch zwei Stunden Tageslicht.
    »Bevor Sie lernen, wie man in Tibet ein Geheimnis entwirrt, müssen Sie lernen, wie man lernt«, sagte Shan.
    Yao verzog das Gesicht und wandte sich an Corbett. »Ein Sträfling hat uns als Geiseln genommen. Es dürfte allgemein bekannt sein, daß die meisten Kriminellen psychisch gestört sind.«
    »Stimmt«, sagte der Amerikaner und lächelte belustigt. »Fast so schlimm wie die meisten Ermittler.«
    Shan zuckte die Achseln. Er verstand nicht, was zwischen den Männern vorging. Sie schienen beide von einem inneren Feuer angespornt zu werden, aber es wurde eindeutig aus unterschiedlichen Quellen gespeist. »In meiner Lagerbaracke gab es einen Lehrer. Er sagte, um wahrhaft etwas zu lernen, müsse man sich von allem bisherigen Wissen befreien. Um die Welt kennenzulernen, dürfe man nicht auf die eigenen Kenntnisse zurückgreifen.«
    Yao holte die Armeelandkarte hervor, die er während des Nachmittags immer wieder zu Rate gezogen hatte, und drehte sie erst in die eine, dann in die andere Richtung. Shan war sichsicher, daß der Inspektor keine Ahnung hatte, wo sie sich befanden.
    »Ich habe mal ein Buch zu dem Thema gelesen«, warf Corbett übermütig ein. »Dort wurde das als ›absichtliche Naivität‹ bezeichnet.«
    Yao warf dem Amerikaner einen finsteren Blick zu und hielt Shan dann das Funkgerät vor die Nase. »Sie haben behauptet, Sie würden den Weg kennen«, sagte er vorwurfsvoll, »aber ich glaube, Sie sind noch nie in dieser Gegend gewesen.«
    »Das stimmt«, räumte Shan ein. »Doch unser Ziel liegt gleich da drüben.« Er deutete auf den nächsten Gebirgskamm in etwa einem Kilometer Entfernung. Über einem Felsvorsprung, der wie ein riesiges Nest aussah, kreisten mehrere große Vögel.
    Auf halbem Weg blieb Shan stehen. »Es wäre sicherer, wenn ich voranginge«, erklärte er seinen Begleitern.
    Corbett schien sich schon nach einem geeigneten Sitzplatz umzuschauen, aber Yao schüttelte den Kopf. »Kommt nicht in Frage. Wenn Sie wollen, daß ich bleibe, weiß ich genau, was mir droht. Nein, Sie werden warten, und wir gehen voraus. Ich werde nicht zulassen, daß Sie die Leute warnen und uns in einen Hinterhalt

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