Der verlorene Sohn von Tibet
müssen wir nun um Verzeihung bitten. Falls man die Entschuldigung annimmt, bekommen wir vielleicht ein paar Antworten auf unsere Fragen.«
Corbett griff bereitwillig in die Tasche.
Eine Viertelstunde später stellten sie am Rand der Ansiedlung einen Kessel Wasser ins Feuer. Als ein neugieriger Dörfler zwischen zwei der Häuser aufgetaucht war, hatte Shan bei ihm Butter und Tee gekauft und sich dann eine dongma und den Kessel geliehen. Nun breitete er ihre Vorräte auf einer Decke aus. Eine Tüte Rosinen, ein Beutel Walnüsse. Ein halbes Dutzend Äpfel. Ein Sack Reis. Vier Dosen Pfirsiche, drei Dosen Thunfisch.
»Das reicht nicht«, sagte Shan, als erst zehn, dann fünfzehn Tibeter bei den Felsen zum Vorschein kamen.
»Es ist unser kompletter Proviant«, wandte Yao ein.
»Was können Sie sonst noch entbehren?« fragte Shan.
Yao schloß den Rucksack und drückte ihn fest an die Brust.Corbett suchte eine Weile, holte dann ein kleines schwarzes Lederetui hervor und gab es Shan. Darin enthalten waren diverse Utensilien zur Spurensicherung. Shan öffnete das Etui und nahm einen kleinen Gummiblasebalg, mit dem normalerweise Fingerabdrücke eingestäubt wurden. Er richtete die Pipette nach oben, drückte den Blasebalg zusammen und ließ etwas Pulver hervorschießen. Die Tibeter im näheren Umkreis schrien überrascht auf und drängten sich dichter heran, als Shan das Gerät an einen alten Mann weiterreichte. Sie glaubten, es handle sich um eine Vorrichtung, um Mehl in die Luft zu schleudern, ein Hilfsmittel für Festtage.
Eine Frau brachte einen Topf Gerstenmehl. Shan bezahlte mit dem Rest von Corbetts Geld. Dann fachte er das Feuer stärker an, und die Frau machte sich daran, das Mehl in einer Pfanne zu rösten, während sie angeregt mit Shan plauderte.
Als immer mehr der argwöhnischen ragyapas sich hervorwagten, ging Shan zu Yao und Corbett, die gemeinsam auf einem nahen Felsen saßen und beide die gleiche skeptische Miene zur Schau stellten.
»Die Leiche wurde gestern am frühen Morgen gebracht«, berichtete er. »Man hat sie sofort zum Totenplatz getragen und an die Vögel verfüttert.«
»Vernichtung von Beweismaterial«, sagte Yao.
»Das paßt nicht zusammen«, widersprach Corbett. »Die Leute haben dieses Abbild angefertigt. Sie wollen nichts vertuschen.«
»Ich glaube, wer auch immer den Toten gebracht hat, wollte, daß die Vögel so schnell wie möglich beginnen«, sagte Shan. »Aber die Leute hier kannten Lodi und wollten ihn ebenfalls betrauern, so gut es eben ging.«
»Diese Geschenke, die Elektrogeräte in dem Tontopf«, sagte Corbett.
Shan nickte. »Ich schätze, die stammen von ihm.«
»Er sah aus wie ein Tibeter«, sagte Yao. »Aber er hatte einen britischen Paß.« Auch der Inspektor hatte sich den Ausweis genauer vorgenommen und offenbar erwogen, ihn als Beweisstück sicherzustellen. Gerade als er ihn einstecken wollte, hatte Yaodann aber einen Blick auf Lokesh geworfen und den Paß zurück auf den provisorischen Altar gelegt.
»Tibetisch und doch nicht tibetisch«, sagte Shan. Obwohl Lodis Ermordung noch immer keinen Sinn ergab, ließen sich nun manche der Tatortspuren erklären. Zudem hatte sich in der Hütte noch etwas befunden: das alte thangka einer aufrecht stehenden blauen Gestalt mit rotäugigem, doppelt gehörntem Stierkopf, umgeben von einer roten Aura. In den Vorderhufen hielt sie einen Speer und ein Schwert, und die Hinterbeine zertrampelten Mensch und Getier im kosmischen Tanz von Tod und Wiedergeburt.
»Das bedeutet, Sie können jetzt heimkehren«, stellte Yao hoffnungsvoll fest und reichte dem Amerikaner eine Schale Buttertee.
»Heimkehren?« murmelte Corbett. »Nein, ich kann nie mehr zurück.« Er hob das Gefäß an die Lippen, trank einen Schluck und schien fast würgen zu müssen. Zweifelnd betrachtete er erst den Tee und dann die Tibeter, als könne er nicht glauben, daß sie das gleiche salzige Gebräu tranken. »Sie verstehen es nicht«, sagte er. »Bisher habe ich noch bei jedem meiner Fälle die gestohlenen Kunstwerke wiedergefunden. Ich schließe nicht einfach so die Akten. Kein einziges Mal während meiner gesamten Laufbahn. Falls ich Lodi erwischt hätte, wäre ich irgendwann auch auf die Beute gestoßen. Nun jedoch …« Er zuckte die Achseln. »Nun muß ich seiner Spur folgen. Die Kette der Beweise hält hoffentlich noch ein paar Anhaltspunkte parat.« Er musterte zweifelnd das Dorf.
Yao nahm diese Neuigkeit mit müdem Gesichtsausdruck zur Kenntnis. Er
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