Der verlorene Sohn von Tibet
Es handelte sich um eines jener uralten Rituale, die in entlegenen Winkeln Tibets überdauert hatten und vermutlich aus der Zeit vor dem Buddhismus stammten.
Shan wandte sich flüsternd an seine Begleiter. »Wenn eine Leiche nicht für die üblichen drei Vorbereitungstage zur Verfügung steht oder wenn die Trauernden beschließen, die Todesriten über den vollen traditionellen Zeitraum von neunundvierzig Tagen abzuhalten, kann der Körper durch ein Abbild des Toten ersetzt werden. Es dient dann als Fokus für diejenigen, die mit ihren Worten den Geist des Verstorbenen während der Übergangsphase begleiten.«
»Das Manuskript ist sehr alt und verblichen«, sagte jemand plötzlich mit ruhiger Stimme. Shan erkannte, daß Lokesh nicht mehr vorlas, sondern mit ihm sprach. »Es ist nach alter Art verfaßt«, fügte sein Freund hinzu. »Die Leute hier kommen nicht damit zurecht und haben mich gebeten, es vorzulesen, zumindest die ersten Kapitel.«
Corbett trat an Shans Seite, starrte eindringlich das Abbild an und schüttelte dann heftig den Kopf, als könne er sich nur mühsam abwenden. Er ging zu Dawa, nahm sie auf die Arme und trug sie nach draußen.
»Wer war der Tote?« fragte Shan.
»Ein Mann, der nicht vorbereitet gewesen ist. Mehr haben sie nicht gesagt«, erwiderte Lokesh.
Nicht vorbereitet. Die Tibeter bezogen sich damit meistens auf fromme Buddhisten, die unerwartet gestorben waren, doch es konnte jede beliebige Person gemeint sein, die ihren Geist nicht auf den Übergang eingestellt hatte. Zum Beispiel ein Mordopfer. Shan ging einen Schritt auf die Figur zu. Vor der Seitenwand standen zwei zusätzliche Butterlampen. Er entzündete sie an einer der anderen Flammen und stellte sie neben das Abbild.
Die Beine der Figur steckten in dicken schwarzen Wollsocken, und darunter lag eine Decke am Boden. Yao hockte sich hin und streckte vorsichtig eine Hand danach aus. Als Shan die Decke zurückschlug, sog Yao hörbar den Atem ein. Dort im trüben Licht lagen die Habseligkeiten des Toten: ein tragbarer CD-Player mit Ohrhörern, ein teures japanisches Fabrikat, das offenbar häufig benutzt worden war. Ein kleines Hartplastikgehäuse mit ausklappbarem Vergrößerungsglas. Ein Paar Wanderstiefel. Ein Kompaß. Ein kompliziertes Taschenmesser mit ungefähr einem Dutzend Klingen. Drei Pinsel mit kurzen Borsten, zusammengehalten durch ein Gummiband. Ein Bündel Dollarnoten. Die tönerne tsa-tsa eines Heiligen, deren Machart genau den Abbildern entsprach, die Shan bei Fionas Haus gesehen hatte.
Yao stieß die Gegenstände mit der Fingerspitze an, als zögere er, sie in die Hand zu nehmen. Shan musterte kurz die Pinsel und erkannte, daß sie nicht zum Malen, sondern zum behutsamen Säubern empfindlicher Objekte gedacht waren. Er hob eine der Lampen zum Kopf der Figur. Yao folgte seinem Blick und zuckte zusammen. Dann eilte er nach draußen, wo sein kleiner Rucksack lag, kehrte gleich darauf mit einer der elektrischen Lampen zurück, beleuchtete das simpel skizzierte Gesicht und rief sofort nach dem Amerikaner. Die Augen des Abbilds waren blau.
Die Entdeckung schien den Inspektor zu beflügeln. Er vergaß nun jegliche Zurückhaltung, hob nacheinander die Gegenstände vom Boden auf und hielt sie in Shans Richtung, als sei damit irgendein Vorwurf verbunden. Dann knurrte Yao, er würde die Soldaten herbeirufen und das gesamte Dorf verhaftenlassen. Als er den CD-Player nahm, schrie Corbett überrascht auf. Es lag ein britischer Paß darunter. Der Amerikaner griff sich das Dokument, klappte es auf und knallte es wütend zurück auf den Boden. Auch Shan nahm es und las den Namen. »Dieser Mistkerl!« fluchte Corbett. Er schien es als persönliche Beleidigung zu betrachten, daß William Lodi sich hatte umbringen lassen.
Shan wartete schweigend ab, bis der Ärger des Amerikaners sich wieder gelegt hatte, stellte Corbett und dem Inspektor dann Lokesh vor, erläuterte den Todesritus und warnte erneut, daß die Anwesenheit von Soldaten alle Tibeter verscheuchen und sämtliche Spuren auslöschen würde. Die beiden Männer sahen ihn nur mürrisch an. Yao spielte fortwährend mit dem Funkgerät herum. Dann bat Shan die beiden, Feuerholz zu sammeln.
»Wir werden für die Dorfbewohner eine Mahlzeit zubereiten«, erklärte er, als Yao zögerte.
»Das wird all unsere Vorräte aufbrauchen«, protestierte der Inspektor.
Shan nickte. »Und ich benötige etwas Geld. Wir haben die Leute gestört und uns sehr unhöflich verhalten. Dafür
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