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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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stellte seinen Tee ab, ohne davon zu kosten, und beobachtete, daß die alte blinde Frau sich langsam dem Feuer näherte. Shan sah, wie er sich vorbeugte, als wolle er aufstehen, und hielt Yao mit einer Hand zurück. Gemeinsam verfolgten sie, wie die anderen Dorfbewohner die Frau begrüßten und zu einem Ehrenplatz auf einer Decke am Feuer geleiteten. Dann schenkte Shan ihr etwas Tee ein, und Lokesh gab ihr eine Handvoll Rosinen, die sie eine nach der anderen in den Mund steckte und mit zahnlosen Kiefern zerquetschte.
    »Großmutter«, sagte Shan auf tibetisch. »Ich habe die Gottheit auf dem thangka in der Trauerhütte noch nie gesehen.«
    Sie hob warnend eine Hand. »Der Name darf nicht laut ausgesprochen werden.« Ihr Lächeln schien zu besagen, daß Shan soeben bei einer Dummheit ertappt worden war. »Hier im Dorf kann nur ich das Bild berühren, denn ich wurde nicht in den Hügeln geboren, und die Gottheit besitzt keine Macht über mich.«
    Sie hatte den schrecklichen Namen nicht genannt, aber Shan wußte trotzdem genug. Dies war das Bild, nach dem die Gottestöter suchten. Deshalb hatte Ming den alten Surya aus Zhoka entführt: um den Sinn dieses vierhörnigen tanzenden Stiergottes zu begreifen. »William Lodi war noch sehr jung«, sagte Shan. »Woran ist er gestorben?«
    »An einer fürchterlichen Wunde in seiner Seite, hieß es.« Sie streichelte den Rücken der Ziege, die neben ihr lag. »Er wird seinem Clan fehlen.«
    »Wurde er erstochen?« fragte Shan.
    Sie reagierte nicht. Sie hatte ihn gewarnt, von den Toten zu sprechen. »All die Jahre hat kein einziger Chinese sich hierher in die Berge gewagt«, sagte sie nach langem Schweigen. »In der Ferne waren manchmal Soldaten zu sehen, aber sie hatten Angst vor unseren Vögeln und sind geflohen. Nun kommen gleich zwei und dazu noch ein weiterer goserpa aus einem fernen Land«, sagte sie und benutzte dabei einen der Begriffe, den die Tibeter für Westler verwendeten. »Manche von uns sind verängstigt, andere verwirrt.« Sie trank einen großen Schluck. »Ihr habt gute Rosinen.«
    »Wo war seine Familie, sein Zuhause?«
    »Bei der Schatzvase im Süden«, sagte sie. »Als Kind war ich dort zu Besuch. Am Geburtstag der Königin haben wir gesungen.«
    Shan schaute zu Lokesh, der aufmerksam lauschte. Sein alter Freund schien ebenso entmutigt zu sein wie er selbst. Die Frau sprach wahre Worte, doch ihnen beiden fehlte das rechte Gehör, würde Lokesh wohl sagen.
    »Waren es Leute von dort, die Lodi zu den Vögeln gebracht haben? Sind sie mit ihm in Zhoka gewesen?«
    »Es gibt hier keine Mönche, schon seit vierzig Jahren nicht mehr. Wir müssen auf unsere eigene Weise wie Mönche und Nonnen sein. Die Menschen vertrauen uns.«
    Shan warf Yao und Corbett einen vorsichtigen Blick zu.
    »Ich war nicht immer blind«, erklärte die Frau. »Und ich bin nicht immer bei den ragyapas gewesen. Als meine Augen noch lebten, habe ich mehr schöne Dinge gesehen als die meisten Leute während ihres gesamten Daseins. Manchmal glaube ich, das ist der Grund für meine Erblindung.«
    »Warst du in Zhoka?«
    »Dies ist ein sehr außergewöhnliches Land, denn die Götter können hier ungestört tätig sein. Wer aus der unteren Welt nach hier oben kommt, muß auf eine Weise Vorsicht walten lassen wie noch nie zuvor.«
    Shan übersetzte die Worte hastig und flüsternd für Yao und Corbett. Eine Erklärung liefern konnte er nicht.
    Die blinden Augen der Frau waren sonderbar ausdrucksstark und ließen nicht nur Besorgnis, sondern auch eine traurige Verwunderung erkennen. Lokesh füllte ihr Tee nach, setzte sich neben sie und rezitierte mit ihr das mani -Mantra. Der alte Tibeter begegnete Blinden mit besonderer Ehrfurcht. Mehr als einmal hatte er Shan erläutert, daß diejenigen ohne Augen sich nicht von all dem sinnlosen Getue der Umwelt ablenken ließen und daß ein respektvoller Beobachter von ihnen lernen könne, wie man unbekannte Sinne nutzt, um die Handlungen der Götter wahrzunehmen.
    »Es tut mir leid, daß du dein Zuhause verloren hast«, sagte Lokesh leise nach einigen Minuten.
    Die Frau streckte den Arm aus, fand zielsicher Lokeshs Hand und umschloß sie. Lokesh war schon seit dem Vortag dort und hatte zusammen mit den Dörflern Mantras gebetet. Shan sah die beiden still am Feuer sitzen und mußte an die Worte der Frau denken. Ich bin nicht immer bei den ragyapas gewesen. Sie gehörte nicht zu den Fleischzerlegern, hatte sich aber – so unvorstellbar das auch sein mochte –

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