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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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entschieden, bei ihnen zu leben.
    »Das ist schon lange her«, sagte sie zu Lokesh. »Ich hatte denLeichnam meines Vaters hergebracht und seinem Geist versprochen, ich würde vorerst bleiben und hunderttausend Mantras an den Mitfühlenden Buddha richten. Während ich hier war, gab es im Norden und Westen, also im Tal, viele Explosionen und Gewehrschüsse. Zwei Tage später kam ein Schäfer mit fünf Yaks und brachte noch mehr Tote. Meine Mutter. Meinen Mann und meine drei Kinder. Die Armee war dort vorbeigezogen.« Es klang, als würde sie von einem heftigen Unwetter erzählen, das zufällig ihr Haus heimgesucht hatte.
    »Großmutter«, sagte Shan. »Wo hast du deine englischen Worte gelernt?« Er sprach auf englisch weiter. »Ich habe in den Hügeln noch eine andere Frau getroffen, die diese Sprache kennt.«
    »Alles Gute«, wiederholte sie, ebenfalls auf englisch.
    »Die Frau heißt Fiona«, fuhr Shan in derselben Sprache fort.
    Sie schien nichts davon zu verstehen, nur den Namen der starken, rätselhaften Frau, die Shan kennengelernt hatte. Die Blinde lächelte. »Fiona«, flüsterte sie und war auf einmal ganz aufgeregt. »Alles Gute«, wiederholte sie, und als hinter ihr Corbett die Worte ein weiteres Mal aussprach, rieb sie sich die Augen, die plötzlich feucht schimmerten. Dann stand sie mühsam auf und tat etwas völlig Unglaubliches: Sie fing an zu tanzen.
    Ihre Schritte waren langsam und steifbeinig, und Shan brauchte nur einen Blick auf Lokeshs verwirrte Miene zu werfen, um zu begreifen, daß dieser Tanz nicht der tibetischen Tradition entstammte. Als die alte Frau jedoch eine Melodie anstimmte, schien Corbett diese zu erkennen, trat zögernd und mit unsicherem Lächeln vor und tastete behutsam nach den Fingern der Tänzerin. Der blinden Frau stockte der Atem, aber als Corbett nun anfing, die Melodie laut zu summen, nahm sie mit festem Griff seine Hand, und sie tanzten gemeinsam.
    Das gesamte Dorf hielt inne und rückte in der Abenddämmerung dicht zusammen. Die Eltern riefen ihre Kinder herbei, und erst Lokesh, dann immer mehr andere klatschten verhalten im Rhythmus. Dawa lachte stumm, die Ziege meckerte leise, und ein alter Mann im Schatten schlug mit einem Holzlöffelden Takt auf einem Tontopf und summte dabei die Melodie mit. Sogar die Zeit schien stillzustehen. Voll Überraschung und Freude verfolgte Shan mit den anderen, wie der Amerikaner und die alte Tibeterin unter dem aufgehenden Mond am Feuer tanzten. Ihre Schritte wurden schneller, aber die Frau schien problemlos mithalten zu können. Die Jahre fielen von ihr ab, und im flackernden Licht sah Shan nun eine sehr viel jüngere Frau lachen, mit strahlenden Augen und voller Leben.
    »Wir müssen gehen«, warf Yao beunruhigt ein und zog an Shans Arm. »Wir müssen einen Hubschrauber rufen. Wir müssen …« Dann wurde auch er vom Zauber des Augenblicks ergriffen, schien seinen Einwand zu vergessen und beobachtete die zwei Tänzer im Mondschein.
    Am Ende fielen die beiden sich erschöpft in die Arme. Corbett drückte die Frau fest an sich und gab sie dann frei.
    »Gott schütze die Königin«, rief die Alte im Überschwang der Gefühle und ließ sich von einem der Kinder zurück zu ihrer Decke führen.
    Corbett neigte den Kopf, als frage er sich, ob er richtig gehört habe, und nahm dann von Shan eine Schale Tee entgegen, diesmal nach indischer Art zubereitet, mit Milch und Zucker. Er nippte vorsichtig daran, grinste und trank alles auf einen Zug aus. »Meine Großeltern haben diesen Tanz getanzt, als ich noch ganz klein war«, erklärte er. »Eigentlich gehören Dudelsäcke und Fiedeln dazu. Das war ein schottischer Reel.« Er schien über die eigenen Worte nachzudenken. »Das ist doch nicht zu fassen. Ein schottischer Reel«, wiederholte er ungläubig und schlenderte dann mit staunender Miene davon.
    »Wir müssen Tan verständigen«, sagte Yao. »Und das Feuer muß heller brennen, damit der Helikopter uns findet.«
    Shan betrachtete weiterhin die blinde Frau, die nun verträumt ihren Gedanken nachhing. »Nein. Wir müssen immer noch begreifen, was es mit Lodi auf sich hat.«
    »Mich interessieren vor allem die Lebenden«, protestierte Yao. »Lodis Komplizen.«
    »Dann vergessen Sie den Hubschrauber«, sagte Shan. »Wir gehen weiter nach Süden.«
    »Nicht ohne Soldaten. Der Tod ist mir in dieser Gegend ein wenig zu alltäglich geworden.«
    »Geht nicht nach Süden, bevor ihr bereit sein«, warf eine Stimme hinter ihnen ein. Sie gehörte der Frau,

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