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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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das verbogene Stück Metallneben den Steinhaufen auf die Felsplatte und nahm es im Licht der ersten Sonnenstrahlen genauer in Augenschein.
    »Wenn es Worte gibt, die man für einen toten Menschen sagen muß, was macht man dann erst bei einem toten Gott?« fragte Dawa leise.
    Zunächst wußte niemand eine Antwort.
    »Es ist nur das Abbild eines Gottes«, sagte Yao nach einem Moment. Shan sah ihn überrascht an.
    »Da drüben in der Hütte ist es auch nur das Abbild eines Menschen«, entgegnete Dawa.
    Die Worte schienen Yao zu verwirren. Er wandte sich einfach ab und schaute nach Süden.
    »Wir müssen packen«, sagte Shan.
    »Ich warte hier«, sagte Yao und griff nach seinem Notizblock. »Ich gehe nicht zu diesem Ort zurück.«
    Schweigend marschierten sie eine Stunde nach Süden. Auch ihr Aufbruch war in aller Stille verlaufen. Während Shan und Corbett gepackt hatten, waren die Dörfler abseits geblieben und hatten sie nicht länger mit Unmut, sondern eher mit Kummer beobachtet, als würden sie sich um Shan und seine Begleiter sorgen. Corbett hatte leise ein paar Blumen gepflückt und sie der blinden Frau in die Hand gelegt. »Alles Gute«, hatte sie geflüstert.
    Shan sah nun, daß Lokesh vom Pfad abgewichen war und den Hang eines flachen Bergrückens erklommen hatte. Er drängte die anderen, sie sollten weiterziehen, und versprach, mit Lokesh bald wieder zu ihnen aufzuschließen. Der alte Tibeter saß am Rand einer kleinen, ungefähr achthundert Meter breiten Ebene. Auf seinem Gesicht lag ein vertrauter Ausdruck, jene seltsame traurige Freude, die er immer dann empfand, wenn er durch die Ruinen eines gompa streifte oder alte Hirten sah, die betend eine mala durch die arthritischen Finger gleiten ließen.
    »Es hat lange gedauert«, sagte Lokesh und wies mit ausholender Geste auf die Ebene, als Shan sich näherte.
    Vor ihnen ragten viele hundert Steinhaufen auf, und manche davon waren so dicht mit Flechten bewachsen, daß ihre Oberflächewie aus einem Stück zu sein schien. Shan wanderte zwischen den Haufen am Rand des Felds umher. Die mit der dicksten Pflanzenschicht waren alle fast zwei Meter hoch, und durch einige Lücken im Bewuchs konnte Shan ihre Verzierungen erkennen, die nicht nur aus dem mani -Mantra, sondern auch aus den kunstvollen Abbildern buddhistischer Lehrer und Gottheiten bestanden. Die ältesten und höchsten Exemplare standen rund um einen kleinen, etwa zweieinhalb Meter hohen chorten aus weißem Stein, den man ebenfalls mit den herrlich herausgemeißelten Köpfen zahlreicher Schutzgottheiten versehen hatte.
    Die überwiegende Mehrheit der Steinhaufen war jedoch kleiner und deutlich jüngeren Datums, wenngleich immer noch mehrere Jahrzehnte alt.
    »Das Schlachtfeld«, sagte Shan. »Hier in den Bergen soll ein furchtbarer Kampf stattgefunden haben.«
    »Wenn man so nahe bei den Toten wohnt, wird man von vielerlei Geistern gestreift«, flüsterte Lokesh ehrfürchtig und schaute in Richtung des ragyapa -Dorfes. »Es ist wie eine Wunde.« Er stand auf und strich über die Spitze eines der Haufen. »Vielleicht muß man dafür sorgen, daß diese Wunde sich niemals schließen kann, denn sonst würde die eigene Seele vernarben.«
    Shan mußte daran denken, wie erschöpft und doch weise die ragyapas ausgesehen hatten, sogar die Kinder. Sie hatten sich entschieden, die Wunde nicht verheilen zu lassen, und erfuhren daher die Ehre, von vielerlei Geistern gestreift zu werden.
    Er sah, daß Lokesh noch etwas entdeckt hatte. Im Spalt einer Felswand stand eine Statue, ein detailliertes Abbild des Zukünftigen Buddha, der heiter und gelassen über das Schlachtfeld blickte. Nein, erkannte Shan, man hatte die Skulptur nicht in den Spalt gestellt, sondern direkt aus dem Fels gemeißelt. Es war eine meisterliche Arbeit, und sogar das in den Sockel gemeißelte Mantra wirkte dank der schwungvollen Linien wie mit einem Pinsel gemalt.
    »Zhoka«, sagte Lokesh.
    Sie verharrten eine Weile vor dem prächtigen Buddha. Einsolches Kunstwerk gehörte eigentlich in einen Tempel oder ein Museum und nicht auf ein abgelegenes Plateau, wo kaum ein lebender Mensch es jemals zu Gesicht bekam. Doch aus irgendeinem Grund wußte Shan, daß Lokesh recht hatte. Es war nicht für die Lebenden bestimmt. Die Mönche von Zhoka hatten es den Toten übereignet.
    »Ich verstehe nicht, was diese beiden Polizisten vorhaben«, sagte Lokesh nach langem Schweigen.
    »Sie wollen die Diebe aufspüren«, erwiderte Shan verwirrt.
    »Wer solch

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