Der verlorene Sohn von Tibet
zögernd und schien mehr Angst vor Dawa als vor Shan zu haben.
Das erste Stück gingen sie, den Rest der Strecke legten sie im Laufschritt zurück. Dawa führte ihn mehr als vierhundert Meter den Hauptpfad entlang, blieb dann stehen und hob warnend die Hand. Sie nahm einen kurzen Stock, der an einem Geröllblock lehnte, und ging zu einer flachen Felsplatte, die quer über mehreren kleineren Brocken lag. Oben auf der Plattehatte jemand einen etwa dreißig Zentimeter hohen Steinhaufen errichtet, und auf dem Boden davor lagen im Halbkreis um eine Öffnung einige frisch angefertigte mani -Steine, deren Mantras mit Ruß und in unbeholfenen Strichen aufgetragen worden waren.
»Er traut sich nicht, es anzurühren«, sagte Dawa. »Er hat behauptet, hier sei vor zwei Tagen eine Gottheit getötet worden. Ich sagte, er solle es beweisen.« Sie bückte sich und fischte mit dem Stock ein großes, verbogenes Stück Metall aus dem Hohlraum.
»Es war ein Gott«, sagte der Junge mahnend. »Aber jetzt ist er tot. Ihr müßt ihn in Frieden lassen.«
Shan kniete sich hin. Es handelte sich um eine Skulptur, eine Statue des Manjushri, eines buddhistischen Heiligen, deren Bronze mit der Patina des Alters schimmerte. Im beginnenden Tageslicht konnte Shan ein heiteres Gesicht mit einem ovalen Schönheitsfleck über der Nase erkennen, einen schlanken, gewölbten Körper und detailliert herausgearbeitete Hände, deren eine das mythische Schwert zur Vertreibung der Unwissenheit hielt, die andere eine Lotusblume, die sich um ein Manuskript rankte. Hinter dem Heiligen saß sein Reittier, ein Löwe. Bis vor kurzem hatte die Figur sich in einem hervorragenden Zustand befunden, abgesehen von einer kleinen korrodierten Stelle an der linken Schulter. Dann jedoch hatte jemand den Heiligen brutal mißhandelt, ihm den Kopf fast vollständig plattgeschlagen und am Hals nach hinten gebogen, den erhobenen Schwertarm verdreht und am Ellbogen zurückgeknickt, die kunstvoll geformten Lotusblüten mit einem scharfen Gegenstand zerhackt und zersplittert. Der gesamte Körper war wuchtig breitgehämmert worden, und das Metall hatte sich gedehnt und Risse bekommen. Das einst wundervolle Kunstwerk war vermutlich Hunderte von Jahren alt, doch hier in der Nähe des durtro , am Tag nach dem Mord an Lodi, hatte man es unwiederbringlich zerstört. Ja, hätte Shan beinahe voll Trauer zugestimmt, die Gottheit ist tot.
»Hast du gesehen, was hier passiert ist?« fragte er den Jungen, der etwas Mut zu fassen schien, nachdem Shan die Skulpturaufgehoben hatte. Shan drehte die Figur um. Im Gegensatz zu den anderen Statuen hatte man bei dieser weder den Rücken noch den Sockel aufgeschnitten.
Der Junge nickte. »Von weitem. Manchmal verstecke ich mich und beobachtete den Pfad. Dann sehe ich, wer hier vorbeikommt oder wohin die Menschen gehen, nachdem sie einen Toten gebracht haben. Ich versuche mir vorzustellen, wie die Welt beschaffen ist.«
»Bist du den Leuten gefolgt, die Lodi gebracht haben?«
»Zwei Männer haben hier bei den Felsen gewartet. Ein Großer und ein Kleiner. Mit chinesischen Gesichtern. Der Große hatte ein Gewehr. Die anderen sind weggelaufen, nur sie nicht. Sie hat ihn angebrüllt, und ich dachte schon, er würde sie töten. Er hat sie gezwungen, ihm den Sack zu geben, den sie bei sich trug. Die beiden haben die Statue genommen und angegriffen. Erst mit den Stiefeln. Dann mit dem Kolben der Waffe. Der große Mann wollte sogar darauf schießen, aber der Kleine hat ihn aufgehalten. Dann haben sie Steine genommen und damit zugeschlagen. Sie haben gelacht und die Figur wie einen Ball gegen die Felsen geschleudert. Sie hat geweint.«
»Wer hat geweint?«
Der Junge verstummte beunruhigt.
»Hast du diese Chinesen gekannt?«
»Das waren keine Chinesen«, flüsterte der Junge. »Bloß Gottestöter, die chinesische Gesichter benutzt haben. Der Kleine war der Anführer. Als er fertig war, hat er einen Stiefel auf den toten Gott gestellt und ihr gesagt, sie soll heimgehen und allen berichten, daß ab jetzt alles anders wird. Ich wußte nicht, was ich machen sollte, also habe ich meine Großmutter geholt, und wir haben den Gott begraben. Unsere Vögel können kein Metall essen.«
»Das hast du gut gemacht«, sagte Shan und sprang auf, als er hinter sich plötzlich Schritte hörte. Aus den Schatten kam Yao zum Vorschein, begrüßte Shan mit stummer Geste und nahm ihm die Statue aus der Hand. Beim Anblick der rücksichtslosen Zerstörung seufzte er laut, legte
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