Der verlorene Sohn von Tibet
wunderschöne Dinge an sich nimmt, begeht gewiß eine Sünde«, sagte Lokesh, »aber ich wüßte nicht, was die Behörden daran ändern könnten. Polizisten sollen sich mit Verbrechen beschäftigen. Es ist viel einfacher, ein Verbrechen zu ahnden, als die Sünde abzugelten.«
Shan wurde zum erstenmal bewußt, daß auch Lokesh auf seine Art Ermittlungen anstellte. Die zerschmetterte Statue bei Atso, die Göttergemälde in dem alten Turm, die Störung des Gleichgewichts am durtro – das waren die Spuren, denen er folgte. Lokesh wollte niemanden bestrafen. Er fahndete nach den Gottestötern, um ihre Sünde wiedergutzumachen. Der alte Tibeter deutete auf eine nahe Felsformation und ging dorthin. Man hatte einen Ast zwischen die Steine geklemmt und eine provisorische Gebetsfahne daran befestigt, den ausgefransten Fetzen eines Kleidungsstücks, beschriftet mit einem Stück Holzkohle. Ganz in der Nähe lagen die Überreste eines Lagerfeuers. Shan hockte sich hin und untersuchte den Boden. Es waren erst kürzlich mehrere Leute hier gewesen, und sie hatten tibetische Stiefel mit glatten Sohlen getragen.
Eine Stunde später stieg der südliche Pfad steil an, und nach zwei weiteren anstrengenden Stunden fanden sie sich auf einer ausgedehnten Hochebene wieder, die im Süden und Westen von den fernen schneebedeckten Gipfeln des Himalaja eingerahmt wurde. Shan hatte noch nie eine solche Landschaft gesehen. Verteilt über die gesamte Fläche, erhoben sich insgesamt zwanzig oder dreißig riesige Felsnadeln und schmale abgeflachte Hügel, manche davon Dutzende von Metern hoch. Wie Steinhaufen, gewaltige Steinhaufen, aufgeschichtet von den Göttern.
»Das ist hier wie am Ende der Welt«, sagte Corbett.
Auf einmal kam Wind auf, ein kalter, heftiger Sturmwind, der sich zu bemühen schien, sie zurück auf den Pfad und weg von dem Plateau zu schieben.
»Wir haben keinen Proviant. Es gibt kein Wasser. Wir müssen umkehren«, murmelte Yao. »Wir können hier oben nicht übernachten. Ich muß zurück nach Lhadrung und mich in Peking melden.«
»Nein. Es gibt Orte, die sich von selbst Menschen suchen«, stellte Lokesh ruhig fest und wiederholte damit, was die blinde Frau gesagt hatte. »Wir werden dazu gedrängt, unsere Aufgabe zu erfüllen. Alles Hinderliche wird beseitigt. Ihr Geld. Ihre Landkarte. Ihr Funkgerät. Ihre Vorräte.«
»Meine Kamera«, fügte Corbett hinzu. »Mein Werkzeug zur Spurensicherung.«
»Dies ist kein Ort für Diebe«, wandte Yao barsch ein.
Shan ließ den Blick über das zerklüftete Terrain schweifen, das nun hinter ihnen lag. Auch er hatte Gründe zur Umkehr. Ming suchte immer noch nach einem Mönch. Gendun hielt sich weiterhin irgendwo in Zhoka auf, während die Gottestöter die Hügelregion unsicher machten.
»Niemand würde in einer derart kargen Gegend leben.« Yao hielt inne und blickte Lokesh hinterher, der mit großen Schritten auf einen Felsvorsprung in etwa dreißig Metern Entfernung zusteuerte.
Shan folgte seinem Blick und riß ungläubig die Augen auf. »Offenbar doch«, sagte er und lief zu Lokesh. Vor dem alten Tibeter waren Worte in die Felswand gemeißelt und wiesen hinaus auf die kahle, lebensfeindliche Ebene.
»Was steht da?« fragte Corbett über Shans Schulter hinweg.
»Studiere nur das Absolute«, übersetzte Shan und warf Lokesh aufgeregt einen kurzen Blick zu.
Die unerwartete Entdeckung schien auch Yao vorerst zu überzeugen, und so gingen sie gemächlich am Rand des Plateaus weiter. Nach einigen hundert Metern wies Corbett auf ein ungefähr sechzig Zentimeter breites Auge, das jemand auf eine hohe Felswand gemalt hatte. Wenig später kamen sie aneiner langen Steinplatte vorbei, in deren Rand die acht heiligen Symbole eingemeißelt waren. Plötzlich blieb Corbett stehen, hob eine Hand und zeigte nach vorn. »Die sieht wirklich lebensecht aus«, flüsterte er.
Fünfzehn Meter vor ihnen saß im Schatten einer mächtigen Felssäule die Statue einer in eine Decke gewickelten Frau und starrte quer über die Ebene. Dawa schaute kurz hin, stieß einen leisen Schrei aus und rannte los. Als Shan ihr folgte, breitete die Gestalt langsam die Arme aus und drückte das Mädchen an sich.
Die Frau, die dort mit grauer Mütze und grauer Decke saß, war Liya und doch nicht Liya. Sie reagierte abweisend und begrüßte die anderen Neuankömmlinge lediglich mit einem zögernden Nicken. »Der braune Wind zieht auf«, merkte sie teilnahmslos an. »Ihr solltet dann nicht draußen sein.« Sie nahm
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