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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Dawa bei der Hand und bog auf einen ausgetretenen Pfad ein, der sich um eine Reihe von Felsen und natürlichen Pfeilern schlängelte.
    Während die anderen folgten, hielt Shan zunächst inne, um noch einmal das Plateau zu mustern. Der Wind hatte tatsächlich zugenommen, und auf der gegenüberliegenden Seite war eine Staubwolke aufgestiegen, so daß die Monolithen in einem gespenstischen braunen Nebel zu schweben schienen. Nachdem sie nun hergefunden hatten, waren die Götter anscheinend nicht geneigt, sie wieder ziehen zu lassen.
    Sie blieben mehrere Minuten auf dem gewundenen Pfad, kamen durch einen kurzen Tunnel, stiegen über eine schmale Rinne hinweg und gelangten an einen höchst eigentümlichen Ort. Es schien, als habe man aus dem hohen, steilen Berggrat große, rechteckige Blöcke geschnitten, ein jeder fast hundert Meter breit, halb so tief und etwa fünfzehn Meter hoch. Sie bildeten vier gewaltige Stufen, die bis hinauf zur Kammlinie führten. Auf ihnen wuchsen Wacholderbäume und Schierlingstannen, und man hatte Häuser aus Stein und Holz darauf errichtet. Die Gebäude standen unmittelbar an der Felswand und waren durch Treppen verbunden, neben denen ein kleiner Bach in Kaskaden über die Blöcke lief. Kurz bevor er in ein Beckenam Fuß des Berggrats stürzte, trieb er ein kleines hölzernes Wasserrad an. Auf jeder der Stufen waren einige Leute zu sehen, allerdings viel zu wenige, um all die Häuser zu bevölkern. Einige von ihnen beäugten die Besucher mißtrauisch, aber die meisten warfen ihnen nur einen kurzen Blick zu und widmeten sich dann wieder ihren Aufgaben, als hätten sie bereits mit der Gruppe gerechnet.
    Ein halbes Dutzend der Bewohner versammelte sich hinter Liya, als wollten sie von ihr beschützt werden. »Wie heißt dieser Ort?« fragte Yao.
    »Bumpari dzong«, antwortete Liya in warnendem Tonfall. »Es ist ein sehr alter Ort. Man erzählt sich, einst hätten hier Götter gewohnt.«
    Bumpari dzong. Das hieß Bergfestung der Schatzvase. Die alte blinde Frau hatte Lodis Zuhause als Schatzvase bezeichnet, erinnerte Shan sich. In der tibetischen Überlieferung war das ein Ort, an dem spirituelle Reichtümer aufbewahrt wurden.
    Lokesh rieb sich vor Entzücken die Hände. Als Shan an seine Seite trat, hob er den Arm und stieß dabei leise Freudenlaute aus. Der alte Tibeter zeigte auf zwei Frauen, die Wolle zwischen zwei nassen Decken preßten, der erste Schritt bei der Erzeugung von Filz. Dann auf einen kleinen hölzernen Webrahmen, wo ein anmutiger Teppich entstand. Und auf eine Frau, die mit einem Steinstößel Pflanzenstiele zerkleinerte, um auf althergebrachte Weise Weihrauch herzustellen. All dies hatte Lokesh wahrscheinlich schon seit Jahren oder gar Jahrzehnten nicht mehr gesehen, erkannte Shan. Es waren Bestandteile seiner Kindheit gewesen, und der alte Tibeter hatte sie längst verloren geglaubt.
    Diese außergewöhnliche Terrassensiedlung lebte tatsächlich noch in einer anderen Zeit. Die Häuser, die Werkzeuge, die religiösen Reliefbilder an den Felswänden und sogar die selbstgewebte und bestickte Kleidung der meisten Einwohner hätte aus dem achtzehnten Jahrhundert stammen können. Doch als Shan genauer hinsah, fiel ihm auf, daß die junge Frau bei dem Webrahmen eine teure goldene Uhr und ein halbwüchsiger Junge am Wasserrad modische Joggingschuhe trug.
    Corbett zupfte Shan am Ärmel. »Da am Eingang«, sagte er.
    Shan drehte sich um. Soeben stemmten sich zwei Yaks in ihr geschmücktes Ledergeschirr und zogen eine riesige Steinplatte die schmale Felsrinne entlang, so daß der Zugangstunnel versperrt wurde. Daneben stand ein dunkelhäutiger gedrungener Mann mit einer Muskete. Der Wachposten sah nicht wie die anderen im Dorf aus. Shan vermutete, daß er von jenseits der Grenze aus Nepal stammte und zum Volk der Gurkha gehörte. In seinem breiten Gürtel steckten eine gekrümmte Klinge und eine Automatikpistole.
    Liya führte sie zu einer kleinen Lichtung unter einem Halbkreis aus Wacholderbäumen, direkt am Fuß der Klippe, die das Dorf im Westen begrenzte. An der Wand rankten sich Kletterpflanzen empor, und mitten zwischen ihnen sah man ein fröhliches Felsgesicht hervorschauen, das lachende Antlitz eines tibetischen Heiligen. In einem gemauerten Steinring brannte ein Feuer, und darüber stand auf einem eisernen Rost ein Kessel. Man bereitete Tee zu, und mehrere der Bewohner kamen herbei, darunter auch eine Frau in mittleren Jahren. Sie trug ein rotes besticktes Kleid und brachte

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