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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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eine kupferne Teekanne mit, die sie aus dem Kessel mit Wasser befüllte. Dann holte sie aus einem Beutel an ihrem Gürtel einige grüne Teeblätter und gab sie hinzu. Schließlich schenkte sie den grünen Tee in vier identische weiße Tassen ein – für Shan, Yao, Corbett und sich selbst. Die anderen Tibeter hingegen bedienten sich schweigend bei dem traditionellen Buttertee. Dann ließen sich alle in einem Kreis nieder und sahen die Besucher erwartungsvoll an.
    »Wir haben lange gewartet«, sagte die Frau im roten Kleid herzlich. »Willkommen in unserem Dorf.« Sie sprach die Worte zweimal, erst auf Mandarin, dann auf englisch. Als sie einen Schluck trank, brach die Sonne zwischen den Wolken hervor und tauchte die kleine Freifläche in strahlendes Licht.
    »Deine Augen!« rief Dawa plötzlich und wies auf die Frau. »Was fehlt dir?« Dann hielt sie inne, schaute zu Corbett und zurück zu der Frau. »Die sind ja wie seine! Wie die von dem goserpa «, sagte sie.
    Blau. Die Frau hatte blaue Augen. Shan musterte die anderenDorfbewohner. Manche der Gesichter wurden von Mützen verdeckt, aber soweit er es erkennen konnte, hatten mehr als die Hälfte aller Anwesenden ebenfalls blaue Augen. Das also waren die Blaumenschen, die im Süden lebten.
    »Ja«, sagte die ältere Frau und gab dem Mädchen eine Holzschale mit Walnußkernen. »Vor langer Zeit hat ein wunderbarer Mann hier gelebt, ein inchi -Lehrer. Er war der Großvater und Urgroßvater der meisten Leute, die heute hier leben. Er ist aus England hergekommen, vor hundert Jahren.«
    Corbetts Kopf ruckte hoch. »Ein Brite?«
    Die Frau nickte. »Im Jahr des Holzdrachen kamen einige hundert Briten nach Tibet. Viele von ihnen wurden gute Freunde unseres Landes.« Sie lächelte und füllte die Tassen nach.
    Sie bezog sich auf das Expeditionskorps unter Leitung von Colonel Francis Younghusband, begriff Shan. Als das Gerücht aufkam, Rußland wolle sich militärisch in Tibet festsetzen, schickte Großbritannien Truppen, um politische und wirtschaftliche Kontakte mit Lhasa zu erzwingen. Man schrieb das Jahr 1904.
    »Sie kamen als Soldaten und waren bereit, in den Krieg zu ziehen«, erzählte die Frau. »Doch am Ende mußten viele von ihnen in erster Linie mit sich selbst kämpfen. Sie hatten nichts über Tibet und die Tibeter gewußt.«
    Shan versuchte sich an die westlichen Geschichtsbücher zu erinnern, die er gemeinsam mit seinem Vater gelesen hatte. Es kam damals zu ein paar kleineren Gefechten, mit schweren Verlusten auf seiten der Tibeter, die mit Amuletten und Musketen gegen moderne Maschinengewehre anrannten. Die Briten überraschten die Tibeter, indem sie die verwundeten Gegner medizinisch versorgten. Die Tibeter überraschten die Briten, indem sie sich bei Verhandlungen an den buddhistischen heiligen Schriften orientierten. Colonel Younghusband verließ Tibet als neuer Mensch, gründete einen Rat der Weltreligionen und arbeitete fortan im Dienst des globalen Friedens.
    »Ihr seid unsere Gäste«, sagte die Frau. »Dort könnt ihr euchwaschen.« Sie deutete auf einen steinernen Trog beim Teich. »Ihr dürft euch hier frei bewegen. Wir bitten nur darum, daß ihr die Trauernden respektiert«, sagte sie mit Blick auf ein kleines Gebäude jenseits der Bäume, das wie ein Tempel aussah. Die Tür wurde von zwei Kohlenpfannen flankiert, aus denen Rauch aufstieg. »Und daß ihr nicht die oberste Ebene betretet, denn dort sind heilige Dinge. Später werden wir gemeinsam essen.«
    Shan achtete bei diesen Worten auf Liya. Sie wirkte sehr besorgt, und als ihr Shans Blick auffiel, wich sie ihm aus.
    Dawa zog Corbett zum Teich. Lokesh schlug den Weg zur nächsten Stufe ein, auf der hinter blühenden Büschen ein langgestreckter, eleganter Fachwerkbau stand.
    Liya ging zum Tempel, als wolle sie nicht mit Shan reden, der vorerst abwartete und seinen Tee trank, während die Gemeinschaft am Feuer sich langsam zerstreute. Er musterte die sonderbare und verführerisch schöne Landschaft und entdeckte dabei ein Wohngebäude auf der gegenüberliegenden Seite der ersten Ebene, ein robustes Holzhaus mit anmutig geneigtem Schindeldach und einer schmalen Veranda, auf der eine große Gebetsmühle und mehrere Blumenkästen aufgehängt waren. Die blaue und rote Blütenpracht reichte bis über das Geländer.
    Als Shan die Veranda betrat, griff er unwillkürlich nach der kunstvoll gefertigten kupfernen Gebetsmühle und drehte sie. Ein Stück abseits stand ein alter Schaukelstuhl, dessen Kufen durch

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