Der verlorene Sohn von Tibet
den häufigen Gebrauch schon sehr abgenutzt waren.
Alles in diesem Terrassendorf schien mit großem Geschick und absoluter Präzision angefertigt worden zu sein, und das Innere des Hauses stellte keine Ausnahme dar. Man hatte die Balken stabil miteinander verzapft und durch die geschnitzten Abbilder von Kletterpflanzen verziert. Die Wände des Hauptraums lagen unter glattem weißem Putz und wurden auf dem unteren Meter durch eine gebeizte und lackierte Holzvertäfelung geschützt. An einer Wand hing ein kleiner Union Jack über Regalen voller westlicher Bücher, an einer anderen ein rundes Dutzend gerahmter Fotos über einem schlichten Steinkamin. Die verbleibenden beiden Wände waren mit einigen thangkas behängt, eines davon über einem kleinen hölzernen Altar mit einem Bronzebuddha. Shan kam sich wie in einem Privatmuseum vor.
Er inspizierte die anderen Zimmer. Im ersten stand ein schmuckloses Holzbett mit dicker Daunendecke, und an den Wänden hingen gerahmte Zeichnungen. Der zweite Raum war eine kleine Küche, der dritte ein weiteres Schlafzimmer mit zwei Holzbetten. Über dem hinteren war ein Regal angebracht, in dem mehrere elektrische Geräte lagen. Eine Bodendiele knarrte, und Shan kehrte in den Hauptraum zurück. Dort stand Yao mit Liya und starrte die britische Flagge an.
»Mein Urgroßvater hat dieses Haus gebaut und seine Kinder hier großgezogen«, erklärte Liya. »Da drüben hängt ein Foto von ihm. Er sitzt draußen auf dem Schaukelstuhl und hält meine Mutter im Arm.«
Shan ging zur Wand und fand nach kurzem Suchen die Schwarzweißaufnahme eines Westlers mit breitem Backenbart, der stolz einen Säugling hielt und den anderen Arm um eine strahlende Tibeterin gelegt hatte, die neben ihm stand. Er wirkte freundlich, beinahe verschmitzt. Auf einem anderen Bild sah man denselben Mann, sehr viel jünger, in makelloser Uniform und mit einem länglichen Helm in der Armbeuge. In der Mitte hingen die Fotos zweier fast kahlköpfiger Männer, die beide auf die gleiche rätselhafte Weise zu lächeln schienen. In einem von ihnen erkannte Shan den dreizehnten Dalai Lama, der vor mehr als sechzig Jahren gestorben war. Den anderen Mann, einen Westler mit Anzug und Krawatte, hatte er in den Geschichtsbüchern seines Vaters gesehen. Winston Churchill.
Unter dem Bild stand ein Kasten mit Glasdeckel auf dem Kaminsims. Darin lagen mehrere Orden und eine Visitenkarte. »Major Bertram McDowell«, las Shan laut vor. »Königliche Artillerie.«
»McDowell!« wiederholte Yao überrascht und kam an Shans Seite.
»Der Major war für ein Jahr in einer Handelsniederlassung in Gyantse stationiert«, sagte Liya hinter ihnen. »Er war einbegeisterter Maler und Schriftsteller und fing an, Material für ein Buch zu sammeln, das erste englische Werk über tibetische Kunst. Als er darum bat, wie ein tibetischer Künstler unterwiesen zu werden, schickte ein Lama ihn in eine Meditationszelle. Dort sollte er eine Woche lang sitzen, mit nichts als einem Buddha bei sich, und seine Gottheit erweitern, bis sie seine Finger erreichte.«
»Ein Lama aus Zhoka«, vermutete Shan.
Liya nickte, ohne den Blick von den Fotos abzuwenden. »Diese eine Woche hat alles für ihn verändert. Er wollte keinen Heimaturlaub mehr, sondern bat immer wieder um eine Verlängerung seiner Dienstzeit. Schließlich trat er aus der Armee aus, und der Lama brachte ihn hierher, wo die Künstler den Mönchen von Zhoka schon seit Jahrhunderten behilflich waren.«
»Warum liegt dieser Ort so versteckt?« fragte Yao.
Liya wandte sich zu dem kleinen Buddha um, der auf dem Altar stand. »Studiere nur das Absolute«, sagte sie.
»Major McDowell hat in diesem Haus gewohnt«, sagte Shan.
Liya nickte. »Er wurde ein großer Künstler.« Sie wies auf einige gerahmte Skizzen, die rund um die Tür des ersten Schlafzimmers hingen. »Er hatte eine Lehrerin, die Tochter eines Kunstschmieds. Nach einem Jahr heirateten die beiden und bekamen sechs Kinder. Zwei der Söhne wurden Mönche in Zhoka, und die anderen Kinder gebaren selbst viele Nachkommen und bevölkerten das Hügelland.« Sie ging zu einem Tisch bei der Tür und nahm einen Gegenstand, den Shan nicht genau erkennen konnte, ein kleines Holzgefäß mit langem Stiel. Liya streichelte es zärtlich. »Alle haben ihn geliebt. Jeden Dezember lud er zu einem Fest ein und beschenkte sämtliche Gäste. Er spielte Geige und brachte allen die Tänze aus seiner Jugend bei.«
Sie hielt sich den Gegenstand unter die Nase und
Weitere Kostenlose Bücher