Der verlorene Ursprung
gehabt hatten, aber kleiner und dazu noch an einer wirklich ungünstigen Stelle.
»Gib mir mal das Fernglas, Jabba«, hörte ich Proxi sagen.
»Es ist in deiner Tasche. Aber du brauchst es gar nicht erst zu versuchen, es wird nicht klappen. Du bist zu nah dran, um die Schärfe richtig einstellen zu können.«
»Hast ja recht.«
»Gib mir deinen Fotoapparat, Proxi«, sagte ich. »Ich mache ein Foto davon, und wir schauen es uns auf dem Bildschirm an.«
»Gute Idee.« Sie gab mir den winzigen Apparat.
Ich wählte nach Gefühl einen Bildausschnitt und machte mehrere Aufnahmen. Dann begann ich den Inhalt der Speicherkarte auf den Laptop zu überspielen. Proxi hatte bereits stolze zweiundsechzig Fotos gemacht, dazu noch in hoher Auflösung. Es dauerte also eine ganze Weile, bis wir uns endlich den Inhalt des neuen Tocapu-Feldes auf dem Bildschirm ansehen konnten. Ich wollte gerade laut verkünden, daß ich Jovi-Loom starten würde, da hörte ich, wie die Doctora über meine Schulter hinweg den Text vorzulesen begann.
»>Hörst du nicht, Dieb? Du bist tot, weil du es gewagt hast, den Stab von der Tür zu nehmen. Noch diese Nacht wirst du laut den Bestatter rufen .. .<«
»Hören Sie auf, Marta«, rief Proxi aufgeregt und klappte schlagartig den Laptop zu.
»Was ist denn los?« fragte die Doctora erschrocken.
»Genau diese Worte hat Daniel gerade übersetzt, als er krank wurde.«
»Ach so .«
»Ich kann Ihnen den Rest sagen, wenn Sie wollen. Ich habe die Übersetzung hier.« Ich öffnete den Laptop wieder, um die Kopie des Dokumentes zu suchen.
»Sie kennen also auch das Geheimnis des Aymara, der vollkommenen Sprache?« fragte Jabba die Doctora, während ich von einem Unterverzeichnis zum nächsten sprang.
»Natürlich kenne ich es.« Sie wischte sich mit der Hand über die Stirn. »Mein Vater, Carlos Torrent, hat es entdeckt. Nachdem er viele Jahre zusammen mit Aymara an Ausgrabungen gearbeitet hatte, erzählten sie ihm von dieser geheimnisvollen Fähigkeit. Sie sagten, die alten Yatiri hätten die Macht besessen, Menschen mit Worten zu heilen oder krank zu machen. Überdies hätten sie die Gabe verleihen können, Musikinstrumente zu spielen, ohne sie erlernt zu haben. Angeblich konnten sie schlechte Menschen in gute verwandeln und umgekehrt und die Seelenverfassung jedes beliebigen Menschen und sogar dessen Persönlichkeit verändern. Mein Vater hielt das natürlich für Legenden. Aber als ich durch die Tocapus das Schriftsystem des Aymara entdeckte, fand ich viele Hinweise auf diese Macht. Also wußte ich, daß tatsächlich stimmte, was mein Vater für Einbildung gehalten hatte. Die Capacas, die Priester aus Tiahuanaco, beherrschten das alte Jaqui aru, die >menschliche Sprachec. Dabei handelte es sich um die bis heute praktisch unverändert gebliebene Aymara-Sprache. Sie wurde bis zur Eroberung des Altiplano durch die Inka und die Spanier gesprochen und hat sich nicht gewandelt. Denn alle Sprecher hielten sie für heilig. Leider unterlag sie im Lauf der Zeit gewissen Einflüssen des Quechua und des Spanischen. Sie hat sich also nicht verändert, nein, in keinster Weise. Sie hat aber einige wenige neue Wörter aufgenommen.«
»Hier ist es«, unterbrach ich sie. »>Hörst du nicht, Dieb? Du bist tot, du hast es gewagt, den Balken von der Tür zu nehmen. Du wirst den Totengräber rufen, noch heute nacht. Die anderen sterben alle überall für dich. Ach, diese Welt wird nicht mehr sichtbar sein! Gesetz, verschlossen mit Schlüsseln.««
»Das ist noch nicht alles«, erklärte Proxi der Doctora. »Daniel konnte es nicht fertig übersetzen. Genau an der Stelle erkrankte er am Cotardsyndrom und an der Agnosie.«
»Das heißt, er denkt seitdem, er sei tot«, fügte ich erklärend hinzu. »Er schreit, man solle ihn beerdigen, und erkennt nichts und niemanden wieder.«
»Ich verstehe«, sagte sie. »Also handelt es sich um eine Art Fluch gegen den, der diese Tür öffnet, um etwas zu stehlen. Das läßt ja schon die Eingangsfrage erahnen: >Hörst du nicht, Dieb?< Die Botschaft richtet sich also an Diebe. Also an Personen, die beabsichtigen, an sich zu bringen, was hinter der Tür liegt. Die Indios hier aus der Gegend haben ihre Häuser und Tempel übrigens nie verschlossen. Nicht weil sie Schlösser und Schlüssel nicht gekannt hätten, sondern weil sie keine brauchten. Schlösser benutzten sie nur, um wichtige Staatspapiere oder den Schatz der Stadt zu schützen. Sonst nicht. Deshalb wunderten sie sich auch,
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