Der verlorene Ursprung
daß die Spanier Sperren und Riegel anbrachten, und dachten, sie hätten Angst vor ihnen. Noch heute legt ein Aymara, wenn er aus dem Haus geht, einen Stab über seine Tür als Zeichen dafür, daß er nicht da ist. Kein Nachbar oder Freund würde es wagen, sein Haus zu betreten. Entfernt jemand diesen Stab, dann nur, um einzubrechen. So ist auch der Satz mit dem Stab in der Warnung zu verstehen. Ich glaube, dieser Text funktioniert wie eine Art Alarmsystem gegen Diebstahl. Er wendet sich an den Dieb höchstpersönlich: Kommst du, um dir zu nehmen, was dir nicht gehört, wird dir all dies zustoßen. Hast du aber nicht vor, etwas zu stehlen, wird der Fluch keine Wirkung zeigen und dir nichts anhaben können. Bedenken Sie, daß er mit Tocapus geschrieben ist. Er sollte also mit ziemlicher Sicherheit speziell aymarasprachigen Dieben den Eintritt verwehren.«
»Nicht unbedingt«, wandte ich ein, denn mich störte der Gedanke, daß dieser Fluch nur Diebe - Leute wie Daniel? -treffen konnte. »Die Felder, mit denen wir es vorhin zu tun hatten, waren ebenfalls auf Aymara und mit Tocapus geschrieben. Allerdings waren es Rätsel oder Kombinationen, mit denen man die Kondorköpfe öffnen oder Treppen herunterholen konnte.«
»Wir haben da eine andere Theorie, Señora Torrent«, erklärte ihr Jabba, der begriffen hatte, worauf ich hinauswollte.
»Wir glauben, daß der Fluch jeden trifft, der Aymara kann, wie Daniel und Sie. Es ist eine Art Code, der über die natürlichen Laute funktioniert, diese aberwitzigen Laute der vollkommenen Sprache, die wir hier gehört haben. Diese sonderbare Mischung aus Zungenschnalzern, kehligen Reibe-und gutturalen Knacklauten. Daniel und Sie können diese Laute hervorbringen und verstehen, sei es auch nur im Kopf, beim stummen Lesen. Wir aber nicht, deshalb kann uns der Fluch nichts anhaben.«
Die Doctora dachte kurz darüber nach. »Hören Sie«, sagte sie schließlich, »ich glaube, Sie irren sich. Ich befasse mich schon viel länger als Sie mit diesem Thema. Ich habe Daniel damit beauftragt, die Quipus, also die Knotentexte im Quechua, zu erforschen, weil ich selbst keine Zeit dazu hatte. Denn ich widme mich seit zwanzig Jahren fast ausschließlich dem Aymara und den Tocapus. Ich nehme an, Sie kennen auch die Geschichte der Miccinelli-Dokumente, also will ich Ihnen die Einzelheiten lieber ersparen. Es sollte Ihnen reichen, daß Daniel, aus meiner Sicht als Fachbereichsleiterin, der am besten geeignete Wissenschaftler war, mit Laura Laurencich, meiner Kollegin aus Bologna, zusammenzuarbeiten. Er ist intelligent, brillant, ehrgeizig. Ich gab ihm eine Aufgabe, die jeder gerne in seinem Lebenslauf stehen hätte. Ich setzte mein ganzes Vertrauen in ihn, zog ihn anderen, erfahreneren Dozenten vor, die eigentlich ältere Rechte besaßen. Ich habe an ihn geglaubt, an sein Talent. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, er könnte von seinem freien Zugang zu meinem Büro und meinen Archiven profitieren, um sich Material von mir anzueignen, das mich viele Jahre Arbeit gekostet hat und das zudem gut geschützt war. Glaubte ich zumindest ... Niemals hätte ich Daniel so etwas zugetraut. Deshalb hat es mir die Sprache verschlagen, als Sie, Señor Queralt, mit Unterlagen bei mir aufgetaucht sind, die niemand außer mir je zuvor zu Gesicht bekommen hatte.«
Sie hielt einen Moment inne, irritiert darüber, daß sie indirekt dieses brisante Thema angeschnitten hatte. Ein wenig schuldbewußt sah sie mich an.
»Zurück zum Thema«, fuhr sie fort, »aufgrund meiner Erfahrung auf diesem Gebiet, die sehr viel größer ist als Daniels oder Ihre, bin ich überzeugt, daß die Yatiri keine universell gültigen Verwünschungen äußerten. Also auch keine Verwünschungen, die sogar den Verfasser eines Textes hätten treffen können. Verstehen Sie, was ich meine?« Sie taxierte uns, als seien wir Studenten in einer ihrer Vorlesungen. »Die Tocapu-Felder bei den Kondorköpfen kann man nicht gerade als große Romane bezeichnen, oder, Señor Queralt? Die Kurztexte beim ersten Kondor bestanden aus nur fünf Tocapus. Diese wiederholten sich dazu noch im nächsten Feld und erneut in dem Feld unter dem Schnabel, in das man die Lösung eingeben mußte. Es handelte sich stets um einfache Serien aus mehreren Figuren. Ich weiß nicht, ob Sie Zeit hatten, sie genauer zu betrachten -sie geben einem sogar visuell Hilfestellung, die richtige Antwort zu finden. Um es also auch ohne Aymara-Kenntnisse zu schaffen. Man brauchte nur ihre
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