Der verlorene Ursprung
kritisiert hast? Und warum hast du sie kritisiert, he? Du warst es doch, der sie beklaut hat! Warum, warum hast du sie kritisiert? Warum hast du ihr vorgeworfen, sie würde von deiner Arbeit profitieren, wo du doch von ihrer profitiert hast?
»Arnau!«
»Was!« schrie ich. »Was, was, was!«
Meine Stimme prallte gegen die steinernen Wände, und ich wachte auf. Vor mir standen Marc, Lola und die Doctora und sahen mich besorgt an.
»Geht es dir gut?« fragte Lola.
Aus Gewohnheit, so nehme ich an, führte ich einen automatischen Checkup durch. Nein, es ging mir nicht gut, es ging mir schlecht, sogar sehr schlecht. »Natürlich geht es mir gut!« fauchte ich sie an.
Marc schaltete sich ein. »He, du! Hör auf, ja? So brauchst du nicht mit ihr zu reden!«
»Ruhe, ihr beiden!« rief Lola und schob Marc weg von mir.
»Alles in Ordnung, Arnau, keine Sorge. Wir beruhigen uns jetzt wieder, okay?«
»Ich will hier weg«, sagte ich angewidert.
»Tut mir leid, Señor Queralt«, sagte die Doctora leise und stellte sich mir in den Weg - zur Treppe zurück zu wollen war eine dumme Idee von mir, da an Rückkehr nicht mehr zu denken war. Es gab keinen Weg zurück, keinen Ausgang.
Doch in diesem Moment war mir das egal. Ich wußte nicht, was ich tat und was ich sagte. »Was tut Ihnen leid?« erwiderte ich barsch.
»Es tut mir leid, daß ich Ihnen weh getan habe.«
»Das ist ja nicht Ihre Schuld.«
»Zum Teil schon, weil ich unbedingt wollte, daß Sie die Wahrheit erfahren. Um das zu erreichen, habe ich nicht Ruhe gegeben und nicht darüber nachgedacht, daß ich Sie damit verletzen könnte.«
»Ach, was wissen Sie denn schon?« rief ich verächtlich. »Lassen Sie mich in Ruhe!«
»Jetzt reiß dich aber zusammen«, schimpfte Jabba hinter mir.
»Ich tue, was mir paßt. Laßt mich doch alle in Ruhe.« Ich warf meine Tasche hin und rutschte, zusammensackend wie eine Marionette, mit dem Rücken an der Kammerwand entlang zu Boden. »Nur ein paar Minuten. Geht ohne mich weiter. Ich hole euch schon ein.«
»Wir lassen dich doch nicht einfach hier zurück, Root!« entgegnete Proxi besorgt. Sie kniete sich vor mich hin und wies mit einer Geste auf die schroffen, furchterregenden Schatten ringsum. »Denk dran, wir sind viele Meter unter der Erde, eingeschlossen in einer Hunderte oder Tausende von Jahren alten präkolumbischen Pyramide.«
»Laß mich, Proxi. Ich brauch ’ne Verschnaufpause.«
»Sei nicht kindisch, Root«, ermahnte mich Jabba liebevoll. »Wir wissen ja, daß das ein Tiefschlag für dich war und daß du fix und fertig bist, aber wir können dich nicht hierlassen, versteh das doch.«
»Ich brauch ’ne Verschnaufpause«, wiederholte ich stur.
Proxi seufzte und stand wieder auf. Nach kurzer Zeit hörte ich, wie sich die drei entfernten, und wenig später waren ihre Lichter nicht mehr zu sehen. Ich blieb allein zurück. Mit meiner Stirnlampe als einziger Lichtquelle saß ich auf dem Boden, die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, und dachte nach. Dachte nach über meinen Bruder, diesen Idioten, diesen im wahrsten Sinne des Wortes hirnlosen Idioten. Was für einen Wahnsinn er sich geleistet hatte. Plötzlich hatte ich das Gefühl, ihn gar nicht zu kennen. Ich hatte immer angenommen, er hätte wie jeder Mensch auch seine Macken und Abgründe, nur kam mir jetzt der Verdacht, daß diese Abgründe tiefer und finsterer waren, als ich geglaubt hatte. Mir gingen lauter Erlebnisse mit ihm durch den Kopf, Teile von Unterhaltungen, die wir im Lauf der Jahre geführt hatten. Und auf geheimnisvolle Weise verschmolzen all diese bruchstückhaften Erinnerungen zu einer konkreten Vorstellung, die auf einmal bestimmte Dinge erklärte, die zu analysieren ich mir nie die Mühe gemacht hatte. Ich sah ihn vor mir, Daniel, wie er über mich lachte, weil ich alles erreicht hatte, ohne je meinen Fuß in eine Universität gesetzt zu haben. Daniel, wie er vor der versammelten Familie behauptete, ich sei der lebende Beweis dafür, daß nicht zu studieren sich viel eher rechnete, als sich Tag und Nacht wie er in Bücher zu vertiefen. Meinen Bruder Daniel, der trotz seiner glänzenden Karriere nie einen Euro in der Tasche hatte und Frau und Kind versorgen mußte. Ich sah ihn vor mir, wie er widerstrebend Geld von unserer Mutter annahm. Wie er hartnäckig meine Hilfsangebote ablehnte ... Daniel Cornwall, mein Bruder, dieser Mensch, den alle schätzten wegen seiner Herzlichkeit und seines freundlichen Wesens. Eigentlich lag es auf der Hand,
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