Der verlorene Ursprung
wenigen Sekunden war diese Stange unsichtbar.«
Die lange Strebe wurde in der Mitte von einem kleinen, aus der Vertiefung herausragenden Steinstab gehalten.
»Und was nun?« fragte Jabba. »Drehen wir die Stange, ziehen wir dran oder schieben wir sie wieder rein?«
»>Nimm den Stab von der Tür, und es wird für dich sichtbar werden, was verschlossen ist<«, zitierte die Doctora.
»Laßt mich mal.« Proxi baute sich vor der Tür auf und bewegte ihre Finger wie eine Pianistin oder, besser gesagt, wie ein Dieb, der nach der richtigen Zahlenkombination eines Tresors sucht.
Doch kaum hatte sie die Steinstrebe umfaßt und behutsam daran gezogen, da löste sie sich aus ihrer Halterung und fiel ihr in die Hände, die unter der unerwarteten Last ein wenig schwankten. Proxi blickte immer noch verdutzt und enttäuscht darauf, als plötzlich die Steinplatte, von der Strebe befreit, zu kreischen und zu ächzen begann. Ein Mechanismus zog sie langsam nach oben: Die Kammer des Reisenden machte die Tore weit.
Unwillkürlich hatten wir uns in einer dichten Reihe vor der sich langsam vergrößernden Öffnung aufgestellt. Schweigend und erwartungsvoll standen wir bereit, dem Unerhörtesten oder Merkwürdigsten gegenüberzutreten, das wir je gesehen hatten. Marta Torrent, die als erste in den Raum blicken konnte, schrie verblüfft auf. Ich hatte noch die Steinplatte vor dem Gesicht. Doch obwohl ich mich hätte bücken können, war ich wie gelähmt - und das nicht nur wegen der kalten Luft, die uns entgegenschlug. Als das Licht meiner Stirnlampe schließlich in die Kammer vordrang und sich in tiefer Finsternis verlor, entfuhr auch mir ein kehliger Laut des Staunens. Kaum einen Meter vor unseren Füßen breitete sich ein Meer aus glänzendem Gold aus, das sich bis zum unsichtbaren Ende jenes präinkaischen Lagerraumes erstreckte, dessen Ausmaße eher an ein ganzes Gewerbegebiet erinnerten. Goldplatten ohne Zahl, alle etwa einen Meter hoch und über eineinhalb Meter breit, standen dort akkurat aneinandergelehnt und bildeten saubere, sich bis in den verborgenen hinteren Teil des Raumes fortsetzende Reihen. Nur in der Mitte war ein schmaler Gang frei geblieben. Es war unmöglich zu erkennen, wie viele Reihen sich links und rechts anschlossen, denn auch die seitlichen Ränder konnten wir nicht mit dem Blick erfassen. Eine ungeheure Menge. Es würde Jahre harter Arbeit bedeuten, all dies zu übersetzen. Und an einer solchen Arbeit würden sich viele Leute beteiligen müssen, bis das vollendet wäre. Wie viele Tafeln sich wohl allein in unserem Blickfeld befanden? Fünfzigtausend, hunderttausend, fünfhunderttausend? Eine unfaßbare Zahl! Wo war der Anfang, wo das Ende? Waren sie womöglich nach irgendeinem unbekannten System geordnet? Oder nach Themen, Epochen, Capacas ...?
Marta Torrent war auch die erste, die den Raum betrat. Sie machte einen zögernden ersten Schritt, dann einen zweiten und blieb stehen. Auf ihrem Gesicht spiegelten sich die glitzernden Funken, die unsere Stirnlampen jenem Meer aus Gold entlockten, auf das sich in fünfhundert Jahren nicht das winzigste Staubkörnchen gelegt zu haben schien. Sie war fasziniert und ergriffen. Dann streckte sie die rechte Hand aus, um die erste Tafel vor sich zu berühren. Doch sie war noch zu weit weg. Unsicher und schwankend wie ein kleiner Kahn in einem Wirbelsturm tat sie den letzten Schritt. Und konnte nun endlich ihre Hand auf das Metall legen. Wir meinten förmlich, einen bläulichen Blitz zu sehen, der bis zur Decke einen strahlenden Lichtbogen erzeugte, eine elektrische Entladung beim ersten Kontakt. Die Doctora hockte sich vor die Goldplatte und strich mit der Hand so zart über die eingravierten Tocapus, als streichele sie das zerbrechlichste Kristall der Welt. Dies mußte für sie der absolute Höhepunkt jahrzehntelangen Forschens und Suchens sein. Ich fragte mich, was diese merkwürdige Frau wohl empfinden mochte angesichts der vollständigsten und ältesten Bibliothek einer verlorenen Kultur, mit der sie sich nun schon so viele Jahre befaßt hatte? Ein unvergleichliches Gefühl mußte das sein.
Ich war der nächste, der die Kammer betrat. Doch im Gegensatz zur Doctora blieb ich nicht stehen, um die in Gold festgehaltenen Texte zu bewundern. Ich ging weiter, den Mittelgang entlang, flankiert von Marc und Lola, die sich fasziniert umschauten. Die kalte Luft im Raum roch irgendwie nach Autowerkstatt, ja, es stank nach einer Mischung aus Öl und Benzin.
»Was steht auf der
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