Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorene Ursprung

Der verlorene Ursprung

Titel: Der verlorene Ursprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
auf der Station, noch dazu ein Einzelzimmer, also mußten wir sogar dankbar sein.
    Kurz nach meinem Gespräch mit Llor und Hernández hatte meine Mutter angerufen. Zum erstenmal in ihrem Leben schaffte sie es, für eine Weile still zu sein und zuzuhören, sie unterbrach mich nicht und redete nicht dazwischen. Sie war wohl wie gelähmt. Es war nicht einfach, ihr begreiflich zu machen, was die Ärzte gesagt hatten. Da sie Krankheiten, für die es keine organischen Ursachen gab, generell für Einbildung hielt, hatte sie große Mühe, mir zu glauben und einzusehen, daß ihr Jüngster, der doch ein Bär von einem Mann war und immer kerngesund, an einer Geisteskrankheit litt. Und nachdem sie mich unzählige Male gebeten hatte, bloß Großmutter nichts davon zu sagen, falls sie anriefe, erklärte sie mit zitternder Stimme, Clifford reserviere bereits Tickets für die Maschine, die am Morgen um sechs Uhr fünfundzwanzig in Heathrow starten sollte.
    Wir konnten die ganze Nacht nicht schlafen. Daniel öffnete immer wieder die Augen und redete drauflos, in langen und wohlkonstruierten Sätzen zwar, dabei jedoch wirr und wie im Fieber: Mal hielt er ganze Vorträge über Themen, die etwas mit seiner Lehrveranstaltung zu tun haben mußten, faselte etwas von einer unbekannten Ursprache, deren Klang mit der Natur aller Geschöpfe und Dinge übereinstimme. Dann wieder erklärte er haarklein, wie er sich morgens das Frühstück bereitete, das Brot mit dem Messer mit dem blauen Griff schnitt, die Krümel mit der linken Hand zusammenfegte, den Toaster auf zwei Minuten einstellte und die Mikrowelle auf fünfundvierzig Sekunden, um sich eine Tasse Kaffee aufzuwärmen. Kein Zweifel, wir waren beide so methodisch und wohlorganisiert geraten wie Großmutter Eulalia, von der wir fast alles gelernt hatten (da unsere Mutter ihre Bestimmung eindeutig verfehlt hatte). Das vorherrschende Thema meines Bruders war jedoch der Tod, sein eigener Tod, wobei er sich ängstlich fragte, wie er Ruhe finden sollte, wenn er seinen Körper nicht spürte. Gaben wir ihm Wasser, dann trank er, sagte aber, er habe keinen Durst, weil die Toten eben keinen Durst haben. Und einmal, als er mit den Fingern das Glas streifte, zuckte er erschrocken zurück und wollte wissen, warum wir ihm dieses kalte Ding an den Mund hielten. Er war wie eine an allen Gelenken verdrehte Marionette, die sich nur danach sehnt, einige Meter unter der Erde zu liegen. Er wußte nicht, wer wir waren oder warum wir bei ihm sein wollten. Manchmal betrachtete er uns aus Augen, so leblos wie die Glasaugen einer Spielzeugpuppe.
    Endlich, gegen sieben Uhr morgens, zeigten sich die ersten Sonnenstrahlen am Himmel. Kurz darauf kamen Onas Eltern, und meine Schwägerin ging mit ihnen frühstücken. Ich war mit meinem Bruder allein. Nur zu gern hätte ich mich an sein Bett gestellt und gesagt: »He, Daniel, komm, steh auf, wir gehen nach Hause!« Das schien mir so naheliegend, so machbar, daß ich mehrmals schon die Hände auf die Armlehnen des Sessels stützte, um aufzustehen. Leider riß mein Bruder jedesmal prompt die Augen auf und gab einen solchen Unfug von sich, daß ich geschlagen und mit einer Zentnerlast auf der Seele wieder niedersank. Kurz bevor Ona und ihre Eltern zurückkamen, blickte er einmal starr an die Decke und redete mit monotoner Stimme über Giordano Bruno und die mögliche Existenz unendlich vieler Welten im unendlichen Universum. Mich bewegte der Anblick, und mir kam in den Sinn, daß sein Wahnsinn, seine verrückte Krankheit, etwas von einem perfekten Quellcode hatte, wie man ihn nur selten im Leben schreibt: Beide bargen eine gewisse Schönheit, die nur wahrnehmen konnte, wer hinter die unansehnliche Fassade blickte.
    Ich verließ die Klinik, ohne ein Auge zugetan zu haben. Um acht mußte ich am Flughafen sein und wollte vorher kurz nach Hause. Müde und niedergeschlagen, wie ich war, brauchte ich dringend eine Dusche und etwas Frisches zum Anziehen. Mir war nicht danach, im Büro vorbeizuschauen, deshalb nahm ich keinen der drei Firmenaufzüge, sondern meinen privaten. Dieser Aufzug, der über ein System mit Spracherkennung bedient wird, hielt nur an drei Stellen: in der Garage, im Erdgeschoß (wo sich die Eingangshalle und der Empfang von Ker-Central befinden) und in meiner Wohnung auf dem Dach des Gebäudes, inmitten eines fünfhundert Quadratmeter großen Gartens, der von blickdichten Schallschutzwänden umgeben ist. Das war mein ganz persönliches Paradies. Es war

Weitere Kostenlose Bücher