Der verlorene Ursprung
hältst.«
»In Ordnung. Ich bin gleich bei dir.«
Ich hatte einen Bärenhunger, deshalb schlang ich das Abendessen, das Magdalena für mich hingestellt hatte, in Etappen hinunter, vor dem Duschen und während ich mich anzog. Sollte ich wie immer eine Jeans anziehen oder doch besser etwas Bequemeres für die Nacht im Krankenhaus? Schließlich entschied ich mich für letzteres. Jeans tragen ist ja fast eine Lebenseinstellung, aber um fünf in der Früh können sie sich in perverse Folterinstrumente verwandeln. Also nahm ich die schwarze Hose von einem meiner Geschäftsanzüge, dazu einen Pulli und ein paar alte Lederschuhe, die ich in meinem Ankleidezimmer fand. Rasieren war zum Glück noch nicht fällig, ich band mir nur die Haare zusammen und fertig. Ich nahm eine Jacke aus dem Garderobenschrank, steckte das Handy in die Innentasche, verstaute den Laptop in einem Rucksack für den Fall, daß ich diese Nacht zum Arbeiten käme, und machte mich auf den Weg zu Ona.
Die Calle Xiprer ist eine dieser schmalen Alleen, in denen noch alte Einfamilienhäuser stehen und die gutnachbarliche Atmosphäre einer Kleinstadt herrscht. Um dort hinzugelangen, muß man umständlich hügelauf und hügelab fahren, aber wer glaubt, den schlimmsten Stadtverkehr hinter sich zu haben und bloß noch parken zu müssen, der hat sich geirrt. Die Autos stehen links und rechts derart gedrängt, daß man ohne Dosenöffner kaum die Straßenseite wechseln kann. Es wäre ein Wunder gewesen, hätte ich an diesem Abend etwas anderes vorgefunden, aber das Wunder ließ auf sich warten. Deshalb tat ich schließlich, was ich dort immer tat. Ich stellte den Wagen an einer Straßenecke gegen die Fahrtrichtung halb auf dem Bürgersteig ab.
Mein Bruder wohnte im vierten Stock eines gar nicht so alten Gebäudes. Ich war überzeugt, daß dort außerdem eine Sippe von Klonen hauste, die aus irgendeinem mysteriösen GenExperiment hervorgegangen sein mußten, denn im Aufzug begegnete ich jedesmal einer exakten Kopie von Jabba. Dieses Phänomen trat in schöner Regelmäßigkeit auf und irritierte mich dermaßen, daß ich Daniel einmal gefragt hatte, ob ihm das auch schon aufgefallen sei. Er hatte gelacht und mir dann erklärt, eine ziemlich große Großfamilie habe in dem Haus gleich mehrere Wohnungen gemietet, und deren Mitglieder sähen Jabba in der Tat nicht unähnlich.
»Nicht unähnlich ...?«:
»Ich bitte dich, sie sind riesig und haben rote Haare, das ist aber auch alles!«
»Wie ein Ei dem andern, würde ich sagen.«
»Jetzt übertreibst du aber!«
Aber heute war mein Bruder nicht da, und ich konnte ihm nicht wie sonst erzählen, daß ich wieder mit einem der Klone im Aufzug gefahren war. In der Wohnungstür stand meine Schwägerin. Sie hatte sich offensichtlich bereits zurechtgemacht, um mit mir ins Krankenhaus zu fahren, dennoch wirkte sie angegriffen und hatte dunkle Ringe unter den Augen.
Sie begrüßte mich mit einem mitfühlenden Lächeln. »Du siehst müde aus, Arnau.«
»Ich habe nicht so gut geschlafen.« Ich trat in die Diele. Aus dem Wohnzimmer kam mir ein winziger Gnom entgegen, das Gesicht halb in ein altes Schultertuch gekuschelt, das er wie Linus von den Peanuts hinter sich herschleifte.
»Er ist todmüde«, wisperte Ona. »Mach ihn nicht wach.«
Ich hatte gar keine Gelegenheit dazu. Auf halbem Weg entschied sich der tuchumhüllte Gnom kehrtzumachen und tapste zu Onas Eltern zurück, die vor dem Fernseher saßen. Das Sofa stand in meinem Blickfeld, ich winkte ihnen von der Wohnungstür aus einen Gruß zu, während mich meine Schwägerin am linken Arm in Daniels Arbeitszimmer zog.
»Das mußt du dir ansehen, Arnau!« Ona drückte auf den Lichtschalter. Das Arbeitszimmer meines Bruders war kleiner als mein Ankleideraum, aber er hatte es fertiggebracht, eine Unmenge Holzregale darin unterzubringen. Sie reichten bis an die Decke und quollen über von Büchern, Zeitschriften, Heften und Ordnern. Mitten in diesem Tohuwabohu brach sein Schreibtisch fast zusammen unter Mappen und Papieren, die er zu einsturzgefährdeten Wällen um den ausgeschalteten Laptop aufgetürmt hatte. Daneben lagen einige Notizzettel und ein Kugelschreiber.
Ona trat an den Tisch, beugte sich über die Zettel, ohne etwas zu verschieben, und legte den Zeigefinger darauf. »Komm schon, lies das«, sagte sie leise.
Ich hatte den Rucksack noch über der Schulter, gab aber dem Drängen in Onas Stimme nach und trat an den Tisch. Direkt vor ihrer Fingerspitze erkannte
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