Der verlorene Ursprung
konnte man dazu kaum sagen. Beide trugen Ledersandalen.
»Gertrude«, sagte Marta, »ist eine echte Doktorin der Medizin, daher Doctora. Nicht wie Efrain und ich, die wir den Doktor nur in einem geisteswissenschaftlichen Fach haben.«
Ich habe mich schon immer damit schwergetan, neue Leute kennenzulernen und mit Fremden warm zu werden. Warum nur war aller Welt so sehr daran gelegen, auszugehen und die Nähe anderer zu suchen, nach dem Motto: je mehr Leute, desto besser? Warum strebten die meisten danach, so viele Freunde wie möglich zu haben? Als sei das ein Triumph - und das Gegenteil eine Katastrophe. Ich mußte mir wie üblich einen Ruck geben und drückte dem Archäologen und der Frau Doktor die Hand, während Marta uns weiter vorstellte. Anschließend wurden wir in den Salon gebeten, einen großen Raum, der vollgestopft war mit allen möglichen merkwürdigen und meist häßlichen Objekten im Tiahuanaco-Stil. Über dem breiten weißen Sofa hing eine große eingerahmte Schwarzweißaufnahme der Ruinen in der Abenddämmerung, die deutlich verriet, wofür Efrains Herz schlug.
Wir nahmen an einem niedrigen rechteckigen Tisch Platz, der wie alle Möbel im Salon aus hellem Holz war. Frau Doktor Bigelow verschwand diskret durch die Tür, nachdem sie Marta signalisiert hatte, sie solle ihr nicht folgen, sondern uns Gesellschaft leisten.
»Ich will Sie erst mal auf den neusten Stand bringen«, sagte Marta. »Efrain und Gertrude wissen bereits von unserer Entdeckung letzte Nacht. Efrain und mich verbindet seit vielen Jahren unser gemeinsames Interesse an der Tiahuanaco-Kultur und ihren großen Geheimnissen. Wir sind alte Verbündete, auch was die Forschungsarbeiten betrifft, zu denen Ihr Bruder das Material aus meinem Büro entwendet hat, Arnau.«
»Was das betrifft, Marta ...«, begann ich, doch sie gebot mir mit einer energischen Handbewegung Einhalt.
»Darüber wollen wir uns jetzt nicht streiten, Arnau. Dafür haben wir später noch reichlich Zeit. Im Augenblick sind nur zwei Dinge von Belang. Erstens, Daniel zu heilen. Und zweitens, unsere Forschung weiter voranzutreiben. Wollen wir reinen Tisch machen? Falls sich unsere Interessen decken, werden wir alle zusammenarbeiten, ist das für Sie in Ordnung?«
Wortlos stimmten wir zu, wobei Jabba, Proxi und ich merkwürdigerweise alle zur gleichen Zeit die Gelegenheit nutzten, es uns auf unseren Stühlen bequemer zu machen.
»Machen Sie sich keine Vorwürfe wegen der Sache mit Daniel«, sagte der Archäologe. »Vor allem Sie, Arnau. Marta und ich würden uns wünschen, daß wir alle an einem Strang ziehen und dieses Thema erst einmal ruhen lassen. Ja, ich weiß, als Außenstehender hat man gut reden, aber ich versichere Ihnen, daß es unserem Projekt nur schaden kann, wenn wir weiter darauf herumreiten. Am besten, wir halten uns an das Wesentliche, einverstanden?«
Erneut nickten wir und rutschten auf den Stühlen herum. In diesem Augenblick kehrte Frau Doktor Bigelow mit einem schweren Tablett zurück. Marta und Efrain beugten sich vor, um den ganzen Nippes und die Zeitschriften vom Tisch zu räumen. Dann hatten wir für ein paar Minuten alle Hände voll zu tun, um Kaffeetassen, Servietten und Kaffeelöffel zu verteilen und Kaffee, Milch und Zucker herumzureichen. Als alle einschließlich der Gastgeberin zu ihrer Zufriedenheit versorgt waren, setzten wir unser Gespräch fort.
»Hier in Bolivien«, begann Marta, »wimmelt es von Legenden über geheime alte Kulturen, die angeblich im Dschungel überlebt haben. Das Amazonasgebiet umfaßt sieben Millionen Quadratkilometer. Mit anderen Worten, Lateinamerika besteht fast ausschließlich aus Urwald, nur die Küstenregionen an den Rändern sind besiedelt. Demnach findet man solche Legenden hier überall. Die Existenz unermeßlicher Schätze, von jahrtausendealten Kulturen und prähistorischen Ungeheuern gehört quasi zum lateinamerikanischen Volksgut. Auch die Legenden von Eldorado oder Paititi, der berühmten goldenen Stadt, die hier in Bolivien gelegen haben soll. Selbstverständlich glaubt niemand wirklich an diese Dinge, zumindest nicht offiziell. Tatsache ist allerdings, daß die Regierungen der Anrainerstaaten des Dschungelgebiets und des Amazonasbeckens alle paar Jahre erneut Expeditionen aussenden auf der Suche nach Goldminen und unentdeckten Indianerstämmen.«
»Und haben sie Erfolg?« Mein spöttisches Lächeln verging mir schlagartig, als ich den ersten Schluck aus meiner Tasse nahm . Im Leben hatte ich noch
Weitere Kostenlose Bücher