Der verlorene Ursprung
nicht unlogisch, selbst eine Expedition zu organisieren. Ähnlich wie Lope de Aguirre im 16. Jahrhundert auf der Suche nach dem sagenumwobenen Eldorado. Allerdings entschied er sich letztendlich für die Gründung eines unabhängigen Königreichs mitten im Urwald.«
»Sie haben da nur eine winzige Kleinigkeit vergessen, Marta«, erwiderte ich sarkastisch. »Wir wissen nicht, wo sich die Yatiri aufhalten. Mit anderen Worten, wir wissen nicht, ob sie überhaupt irgendwo im Amazonasgebiet leben. Finden Sie es nicht etwas gewagt, sich auf eine reine Vermutung zu stützen? Vielleicht halten sie sich ja in irgendeiner Andenhöhle versteckt oder haben sich unter die Bevölkerung eines Dorfs gemischt. Warum nicht?«
Sie starrte mich sekundenlang geistesabwesend an, als zögere sie, ob sie mich wegen meiner totalen Ignoranz eher rücksichtsvoll behandeln oder ganz einfach plattmachen sollte. Zum Glück bremste sie sich. »Wie schlecht doch Ihr Gedächtnis ist, Arnau! Erinnern Sie sich denn nicht mehr an die Karte von Sarmiento de Gamboa?« Ihre Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. »Sie selbst haben mir doch eine Kopie in mein Büro gebracht. Ich darf doch wohl daraus schließen, daß Sie sie studiert haben? Ich habe die zerrissene Karte vor etwa sechs Jahren im Hydrographischen Archiv in Madrid aufgestöbert. Erinnern Sie sich noch an die Botschaft? >Weg der Yatiri-Indianer - Zwei Monate über Land. Dies bezeuge ich, Pedro Sarmiento de Gamboa, in der Stadt der Könige am zweiundzwanzigsten Februar fünfzehnhundertfünfundsiebzig.««
Ich war sprachlos. Natürlich. Meine Nachforschungen über diese Landkarte voller Markierungen, die aussahen wie Ameisenspuren, hatten mich zum Amazonas geführt. Allerdings war mir das zum damaligen Zeitpunkt überhaupt nicht wichtig vorgekommen.
»Man muß die Karte nur auf die von Bolivien legen.« Marta lehnte sich bequem auf dem Sofa zurück. »Dann erkennt man, daß darauf der Titicacasee abgebildet ist und dazu die Ruinen von Tiahuanaco. Von dort aus führt ein Weg eindeutig ins Amazonasgebiet. Ich bin deshalb überzeugt, daß es vollauf gerechtfertigt ist, die Suche nach den Yatiri wiederaufzunehmen.«
Lola hatte - was gar nicht ihre Art war - die ganze Zeit über noch hartnäckiger geschwiegen als Frau Doktor Bigelow. Nun beugte sie sich plötzlich mit betont gelangweilter Miene vor und setzte die Tasse auf dem Tisch ab, ohne das Gebräu angerührt zu haben: »Das haben wir zwar in der Kammer des Reisenden so gesagt, Marta, doch jetzt, hier in der Stadt, bei einer Tasse Kaffee, sehen die Dinge doch etwas anders aus. Ich möchte Sie daran erinnern, daß die Karte auf der Goldtafel nichts anderes war als eine Zeichnung aus Linien und Strichen, die ins Nichts führten. Tut mir leid, aber ich würde ein solches Unternehmen für reinen Wahnsinn halten.«
»Bisher haben wir diese Karte noch gar nicht richtig ausgewertet, Lola«, erwiderte Marta Torrent ruhig. »Wir haben auch das graphische Material noch nicht gesichtet, das Sie klugerweise in der Pyramide abfotografiert haben. Wir, und damit meine ich Gertrude, Efrain und mich, wir alle drei, sind bereit, einen Versuch zu wagen. Efrain und ich, weil wir schon unser ganzes Leben lang an diesem Thema arbeiten. Und Gertrude kennt sich, wie sie Ihnen bereits erzählt hat, gut in der Frage der unentdeck-ten Indianervölker aus. Sie ist überzeugt, daß wir die Yatiri ausfindig machen könnten. Wenn Sie uns nicht begleiten wollen, würde ich Sie bitten, uns zumindest alles relevante Material zur Verfügung zu stellen.« Sie schaute mich unverwandt an, in Erwartung einer Antwort. »Als Gegenleistung«, fuhr sie angesichts meines hartnäckigen Schweigens fort, »würde ich die Angelegenheit mit Daniel vergessen, natürlich nur in gewissen Grenzen. Aber das könnten wir später noch aushandeln.«
Jetzt erkannte ich sie wieder. Endlich gab sich die Marta Torrent zu erkennen, die ich in ihrem Universitätsbüro kennengelernt hatte. Wenn sie sich von ihrer zynischen Seite zeigte, fühlte ich mich sicher, ruhig und gewappnet, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Allein daß sie wieder einen Rock trug, Ohrringe und denselben breiten Silberarmreif, half mir, sie einzuschätzen.
»Halt, stop, Marta«, kam mir Frau Doktor Bigelow zuvor. »Es ist ja in Ordnung, daß du das mit Daniel vergessen willst, doch du hast dir noch nicht einmal angehört, was sie von der Idee einer Expedition halten. Vielleicht ist es ja gar nicht nötig,
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