Der verlorene Ursprung
fügte ich hinzu.
»Genau.« Marcs Ingenieursgehirn bewegte sich wie immer in Quantenschritten. »Würden wir quasi mit Neurotransmittern schreiben, könnten wir die Menschen programmieren.«
»Lassen Sie mich zunächst fortfahren«, bat Gertrude mit ihrem markanten nordamerikanischen Akzent. »Hier handelt es sich nicht um eine Theorie. Was ich Ihnen beschrieben habe, ist seit vielen Jahren bewiesen, und inzwischen wissen wir weitaus mehr. Was sagen Sie dazu, Marc, daß ich, indem ich eine bestimmte Region Ihres Schläfenlappens stimuliere und bestimmte Neuronen aktiviere, bei Ihnen eine tiefe mystische Erfahrung in Gang setzen könnte? Sie wären dabei felsenfest überzeugt, Sie könnten Gott sehen. Es ist empirisch erwiesen, daß das tatsächlich möglich wäre. Ebenso wie die Tatsache, daß es kein spezifisches Areal im Gehirn gibt, wo Empfindungen wie etwa Glück zu lokalisieren wären. Dagegen ist der Schmerz sehr wohl lokalisierbar, der physische wie der seelische, und ebenso die Angst. Die Ausschüttung von Dopamin in Ihrem Gehirn löst bei Ihnen ein Wohlgefühl aus, aber nur so lange, wie der Neurotransmitter aktiv ist. Ist das nicht mehr der Fall, verschwindet dieses Gefühl oder Empfinden wieder. Sind Sie sehr beschäftigt oder auf eine Arbeit konzentriert, bleibt ein Teil Ihres Gehirns blockiert, und zwar die sogenannte Kleinhirnmandel, die für negative Emotionen zuständig ist. Deshalb heißt es auch, Arbeit sei die beste Medizin. Worauf ich hinauswill ist folgendes. Furcht und Liebe, Enthaltsamkeit und sexuelle Begierde, Hunger, Haß, Gelassenheit, all diese Gefühle entstehen, weil ein chemischer Botenstoff durch eine kleine elektrische Entladung aktiviert wird. Es gibt sogar eine spezielle Art von Neurotransmittern, die sogenannten peptischen Neurotransmitter, die weitaus präziser arbeiten. Sie können zum Beispiel bei jedem von uns bewirken, daß er oder sie die Farbe Gelb haßt, Lust hat, Musik zu hören oder ein Buch zu lesen, oder sich zu Rothaarigen hingezogen fühlt.« Sie schaute lächelnd in Lolas Richtung.
»Oder daß er Angst vorm Fliegen hat«, ergänzte Marc.
»Genau.«
»Das heißt also, daß die Sprache der Aymara eine Art elektromagnetische Wirkung besitzt«, sagte Proxi bestimmt, »die die Yatiri zu nutzen verstehen.«
»Nein, Lola«, Gertrude schüttelte den Kopf, wobei ihr Haar erneut in Unordnung geriet. »Wenn meine Theorie zutrifft, und genau das will ich auf dieser Reise herausfinden, ist es noch viel simpler. Ich glaube, daß das Aymara mit Abstand die vollkommenste Sprache ist, die es gibt. Efrain und Marta haben mir das oft versichert. Und obwohl ich das Aymara kaum verstehe, weiß ich, daß sie recht haben. Meiner Meinung nach ist das Aymara ein perfektes Vehikel, um das Gehirn mit Klängen und Tönen zu bombardieren. Sie alle kennen doch sicher die klassische Filmszene, wo ein sehr hoher oder schriller Ton ein Glas zerspringen läßt? Das Gehirn reagiert ganz ähnlich, wenn man es mit Klangwellen bombardiert.«
»Es zerspringt?« scherzte Jabba.
»Nein. Es gerät in Schwingungen. Es reagiert auf die von den Klangwellen hervorgerufene Vibration. Nach meiner festen Überzeugung wird von unseren Stimmwerkzeugen für das Aymara eine bestimmte Art von Wellen gebildet. Gelangen diese über das Ohr ins Gehirn und aktivieren die Neurotransmitter, lösen sie die verschiedenen Gemütszustände und Gefühle aus. Und wenn die hyperspezialisierten peptischen Neurotransmitter aktiviert werden, kann so ein Wort fast alles bewirken.«
»Aber was ist mit dem Aymara, das noch heute gesprochen wird?« Der Gedanke beunruhigte mich. »Warum hat es nicht die gleiche Wirkung? Doch nicht wegen des spärlichen Einflusses des Quechua und des Spanischen in den letzten fünf-, sechshundert Jahren?«
»Nein, ich glaube nicht«, erläuterte Gertrude Bigelow.
»Meine Theorie lautet eben, daß das Aymara das perfekte Vehikel ist, um Töne zu erzeugen, die das Gehirn sozusagen aus dem Takt bringen. Aber in welcher Reihenfolge oder Anordnung müssen sie hervorgebracht werden, um die gewünschte Wirkung zu erzielen? Genügte ein einziger Laut des Fluchs, um Ihren Bruder krank zu machen, oder war es eine bestimmte Lautkombination? Ich für meinen Teil nehme an, daß die Yatiri die entsprechenden Worte in einer genau vorgeschriebenen Reihenfolge aussprechen.«
»Mit einem Wort: die guten alten magischen Formeln.« Lola triumphierte. Sie sah ihre eigene Theorie bestätigt. »Ich will das ja nicht
Weitere Kostenlose Bücher