Der verlorene Ursprung
Welt eine letzte Nachricht zukommen zu lassen. Zumindest eine Mitteilung, wo sie unsere Leichen finden konnten, damit sie nach Spanien überführt würden.
Sonntag rief ich spät in der Nacht meine Großmutter an und redete eine ganze Weile mit ihr. Wenn es jemanden gab, der Verständnis für diesen Wahnsinn aufbringen konnte, dann war es meine Großmutter. Sie zeigte sich nicht im geringsten überrascht von dem, was ich ihr voller Begeisterung erzählte. Fast hätte ich geschworen, daß sie am liebsten mit mir getauscht und ihr Leben in der >grünen Hölle< aufs Spiel gesetzt hätte -übrigens der einzige Ausdruck, den Efrain, Marta und Gertrude benutzten, wenn sie vom Amazonasgebiet sprachen. Meine Großmutter bat mich eindringlich, auf der Hut zu sein und keine unnötigen Risiken einzugehen, verlangte aber nicht, mir das Abenteuer aus dem Kopf zu schlagen. Meine Großmutter strotzte nur so vor Energie und würde bis zum letzten Atemzug die lebendigste Person auf Erden bleiben. Wir vereinbarten, daß sie meiner Mutter nichts verraten würde, und ich versprach ihr, mich so bald wie möglich bei ihr zu melden. Sie erzählte mir von ihrem Plan, Daniel mit nach Hause zu nehmen. Ein längerer Krankenhausaufenthalt mache keinen Sinn. Ich war drauf und dran, ihr das mit den aus Martas Büro geklauten Forschungsunterlagen zu beichten. Letztendlich behielt ich es aber für mich, weil mir eins klar war: Falls uns während der Expedition etwas Schlimmes zustieße, wäre das Vergehen meines Bruders aus der Welt. Deshalb war es nicht nötig, meine Großmutter damit zu quälen. Ich konnte es ihr immer noch erzählen, wenn ich unversehrt wieder in Barcelona gelandet war.
Noch am Sonntag - wir hatten längst die gesamte Ausrüstung beisammen - luden Marc und Efraín weitere Informationen über den Madidi-Park aus dem Netz herunter. Gertrude, Marta, Lola und ich lasen sie kurz durch, reichten sie Seite für Seite weiter, sobald sie aus dem Drucker kamen. Der Park war am 21. September 1995 von der bolivianischen Regierung eingerichtet worden, und zwar so, daß er sich nahtlos an die übrigen Nationalreservate anschloß, den Manuripi Heath, das KordillerenNaturschutzgebiet Apolobamba und das Naturreservat zum Schutz der Biosphäre Pilón Lajas. Dort herrschte ein tropisches Klima, warm bei nahezu hundert Prozent Luftfeuchtigkeit, wodurch jede körperliche Anstrengung ein einziger Alptraum werden würde. Die Luftaufnahmen und Satellitenfotos zeigten, daß der Süden sich durch tiefe Täler und steile Hänge auszeichnete, während die Gebirgslandschaft der subandinischen Region Höhen von bis zu zweitausend Metern erreichen konnte. Das bedeutete, daß wir möglichst diesen Bergen den Rücken kehren und uns durch flaches Gebiet bewegen mußten, wenn es unsere Route zuließ. Dazu würden wir zunächst dem Tal des Río Beni folgen und erst später in Richtung der Hänge und Täler im Süden abbiegen.
»Irgend etwas stimmt da nicht.« Lola erhob sich vom Sofa und ging mit sorgenvoller Miene zu den militärischen Karten hinüber, die immer noch aufgeschlagen auf dem Tisch lagen.
»Wenn die Entfernung zwischen Taipikala und dem Punkt auf dem goldenen Plan, wo sich die Spuren verlieren, unseren Berechnungen zufolge ungefähr vierhundertfünfzig Kilometer beträgt und man bei einer Fußwanderung durch diese Berge, ohne sich zu sehr zu beeilen, an einem Tag fünfzehn bis zwanzig Kilometer schaffen kann, dann ist da etwas falsch. Man würde nämlich weniger als einen Monat bis zu dem besagten Dreieck brauchen und nicht zwei, wie es bei Sarmiento de Gamboa heißt.«
»Na schön, in unserem Interesse hoffe ich, daß du dich irrst«, sagte Jabba. »Vergiß nicht, daß wir nur Vorräte für fünfzehn Tage besorgt haben.«
»Mehr könnten wir auch gar nicht mitschleppen«, gab ich zu bedenken.
Für die Berechnung unserer Lebensmittelvorräte hatten wir von der Gesamtstrecke natürlich abgezogen, was wir mit dem Flugzeug zurücklegen würden, also den Weg von La Paz nach Rurrenabaque. Von dort aus blieben noch etwas über hundert Kilometer, die uns von dem Dreieck auf der Karte trennten. Unsere Unerfahrenheit, mögliche Zwischenfälle und die Tatsache, daß wir uns den Weg mit der Machete freischlagen mußten, einbezogen, hatten wir die Essensvorräte eher großzügig bemessen. Wir durften ja auch die hundert Kilometer für den Rückweg nicht vergessen. Unsere Vorräte waren so reichlich, daß wir überzeugt waren, sogar noch mit Büchsen im
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