Der verlorene Ursprung
Rucksack zurückzukehren. Wir waren lieber übervorsichtig, als womöglich hungern zu müssen. Denn wenn wir uns einmal im Urwald befanden, konnten wir uns nirgendwo mehr etwas besorgen, und ich wollte mir die Erfahrung ersparen, zusehen zu müssen, wie mein Freund Marc Baumstämme annagte oder in die erstbeste Schlange biß, die ihm über den Weg kroch.
In der Nacht vor unserem Abflug tat ich kein Auge zu. Bis zum Morgengrauen saß ich da und beantwortete Nurias letzte EMails mit geschäftlichen Fragen, erstaunt, daß auf einmal Licht durch die Ritzen der Fensterläden sickerte. Es war einer dieser Momente, wo man nicht weiß, wie man in eine Situation geraten ist. Ich jedenfalls hätte nicht zu sagen gewußt, wie es mich dorthin verschlagen hatte. Nur ganz entfernt erinnerte ich mich an den Boykott der Foundation TraxSG und an den Anruf meiner Schwägerin, Daniel sei krank. Bis zu dem Tag hatte ich ein angenehmes Leben geführt. Vielleicht einsam - na schön, verdammt einsam -, aber ich hatte mir zumindest eingebildet, zufrieden zu sein mit dem, was ich tat und was ich erreicht hatte. Und dann hatten sich die Ereignisse überschlagen, ohne daß ich Zeit zum Nachdenken gefunden hätte. Was hatte ich in diesem Hotel, Tausende Kilometer von zu Hause entfernt, überhaupt zu suchen? Im nachhinein kam es mir so vor, als hätte ich in einer Luftblase gelebt, ohne zu wissen, wann und wie ich dort hineingeraten war. Vielleicht war ich ja schon in sie hineingeboren worden. Als mir dieser Gedanke durch den Kopf schoß, wußte ich, daß er zutraf. Wenn je alles wieder so würde wie zuvor, würde ich Ker-Central so lange weiterführen, bis ich es satt hätte. Dann würde ich das Unternehmen verkaufen und mir etwas anderes suchen. Eine andere Tätigkeit, ein anderes Geschäft, das mich mehr interessierte. So war es immer gewesen. Sobald etwas in Routine erstarrte und mich nicht mehr Tag und Nacht umtrieb, gab ich es auf und machte mich erneut auf die Suche nach dem Inhalt der Luftblase: einer neuen Aufgabe, die mich zwang, über mich hinauszuwachsen. Einer Aufgabe, die mich am Nachdenken hinderte. Die es mir ermöglichte, mit mir allein zu sein. Ohne weitere Verpflichtungen als die zu beobachten, wie das Sonnenlicht durch Fensterritzen sickerte.
Vielleicht würde ich ja aus dem Regenwald nicht zurückkehren, dachte ich. Vielleicht waren die Gefahren, die uns dort erwarteten, eine Nummer zu groß für uns drei Grünschnäbel, zwei Laien und eine Pseudoexpertin. Trotzdem fühlte ich mich besser denn je. Hier, außerhalb der Luftblase, mit Blick auf das echte Leben, riskierte ich weitaus mehr, als mir ein Computervirus einzufangen oder durch eine Fehlinvestition ein paar Millionen zu verlieren. Allmählich dämmerte mir, daß sich mir da draußen mehr bot, jenseits meiner engen virtuellen Welt, in der ich es zufrieden war, meine Lieblingsmusik zu hören oder meine Bücher zu lesen oder meine liebsten Bilder zu betrachten. Im Grunde genommen würde ich Daniel danken müssen, wenn er erst wieder gesund war - aber erst nach einer ordentlichen Tracht Prügel, natürlich im übertragenen Sinn. Danken dafür, daß er es mir ermöglicht hatte, mein perfektes, abgezirkeltes Leben zu verlassen. Die ganze Sache mit dem Aymara hatte meine Routine durchbrochen, hatte mich gezwungen, mich mit einem Teil meiner selbst auseinanderzusetzen, der mir bisher verborgen geblieben war. Hatte ich das Leben jemals intensiver gespürt als in dem Augenblick, als ich über den mit Goldtafeln vollgestellten Boden im Bauch einer präinkaischen Pyramide lief? Oder als ich wie ein Verrückter versuchte, die losen Enden der von den spanischen Chronisten über die Eroberung Lateinamerikas im 16. Jahrhundert überlieferten Daten zusammenzubringen? Wie ließ sich in Worte fassen, was ich in diesem Augenblick empfand? Fast hätte ich zu behaupten gewagt, daß mich etwas Ähnliches antrieb wie eine Leidenschaft. Eine Leidenschaft, die mir das Herz rasen und mich mit großen Augen staunen ließ.
Als Marc und Lola mich gegen zehn Uhr morgens zum Frühstück abholten, saß ich noch in den Kleidern vom Vortag da, im Sessel eingenickt, die nackten Füße auf dem Tisch.
An dem Morgen stand mir noch ein wichtiger Schritt bevor: Ich sollte mir eine Glatze rasieren, bevor wir das Flugzeug der TAM nach Rurrenabaque bestiegen. Marta hatte mich gewarnt, lange Haare seien im Urwald die größte Attraktion für Ungeziefer jeglicher Art.
Das Flugzeug hob mittags vom
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