Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorene Ursprung

Der verlorene Ursprung

Titel: Der verlorene Ursprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
würde. Die Krankenschwestern hatten die Stuhlfrage wohl persönlich genommen, was ich ihnen, ehrlich gesagt, nicht verdenken konnte. Ich hoffte inständig, daß Clifford und meine Mutter sich an den Zugangscode für meine Wohnung erinnerten, denn andernfalls sah ich mich schon, wie ich sie auf der Polizeiwache in der Via Laietana loseiste.
    Ona setzte sich in den Sessel und vertiefte sich in ein Buch, und ich zog den Stuhl an diesen Rollkasten mit ausklappbarer Verlängerung, der mal als Nachttisch, mal dem Pflegepersonal als Arbeitsfläche diente. Ich schob die Box mit Papiertüchern zur Seite, die Wasserflasche, Daniels Glas und die Augentropfen, die wir ihm regelmäßig geben mußten, da seine Bindehaut auszutrocknen drohte, weil er nicht oft genug blinzelte. Ich zog den kleinen Rechner aus dem Rucksack (ein leistungsstarkes Gerät, das trotzdem kaum mehr als ein Kilo wog), klappte ihn auf und schob ihn auf der Ablage zurecht, bis ich einigermaßen bequem tippen konnte und Platz für das Handy blieb, das ich für den Zugang zum Intranet von Ker-Central brauchte. Ich wollte einen Blick in die Post werfen, um zu sehen, was anstand, und die Unterlagen lesen, die Nuria für mich vorbereitet hatte.
    Eine halbe Stunde gelang es mir, zu arbeiten und alles um mich herum zu vergessen. Ich war völlig darin vertieft, die dringendsten Angelegenheiten der Firma zu erledigen, als ich zusammenfuhr. Daniel hatte aufgelacht. Es war ein düsteres Lachen, und ein Blick über den Rand des Bildschirms zeigte mir, daß seine Lippen zu einem schrägen Grinsen verzerrt waren. Ehe ich reagieren konnte, war Ona bereits aus dem Sessel aufgesprungen und beugte sich besorgt über Daniel, der weiter schief lächelte und die Lippen bewegte, als wollte er etwas sagen.
    »Was hast du denn, Daniel?« Sie streichelte ihm über Stirn und Wangen.
    »Lawt’ata.« Er lachte erneut dieses trostlose Lachen.
    »Was hat er gesagt?« Ich trat ans Bett.
    »Keine Ahnung, ich habe es nicht verstanden!«
    »Ich bin tot«, kam es tonlos von Daniel. »Ich bin tot, weil die Yatiri mich bestraft haben.«
    »Um Himmels willen, mein Liebling, rede doch nicht solchen Unsinn!«
    »Was bedeutet lawt’ata, Daniel?« Ich stützte mich mit der Hand auf sein Kopfkissen, aber er drehte den Kopf weg und schwieg beharrlich.
    »Laß ihn, Arnau.« Ona gab sich geschlagen und kehrte zu ihrem Buch und dem Sessel zurück. »Er sagt bestimmt nichts mehr. Du weißt doch, was er für ein Dickkopf ist.«
    Aber Daniels grausiges Lachen und seine Worte ließen mir keine Ruhe. Welche Sprache mochte das sein?
    »Quechua oder Aymara«, sagte Ona sofort, als ich sie fragte.
    »Wahrscheinlich Aymara. Quechua war die offizielle Sprache der Inka, aber im Südosten ihres Reichs wurde Aymara gesprochen. Daniel mußte für seine Arbeit bei Marta Torrent beides lernen.«
    »In den paar Monaten?« Ich nahm meinen Stuhl und drehte ihn um, so daß ich Ona ansehen konnte. Die Energieverwaltung des Laptops hatte die vorgenommenen Änderungen gespeichert und den Monitor ausgeschaltet. Wenn ich nicht bald die Maus bewegte oder eine Taste drückte, würde das Programm auch die Festplatte abschalten.
    »Für deinen Bruder ist Sprachenlernen ein Klacks, wußtest du das nicht?«
    »Trotzdem.«
    »Na ja ...« Sie lächelte gequält. »Er hat wirklich hart gearbeitet, seit er bei Marta angefangen hat. Wie gesagt, es hatte ihn gepackt. Er kam von der Uni, hat etwas gegessen und ist dann bis abends hinter seinem Schreibtisch verschwunden. Aber mit dem Quechualernen hat er ziemlich schnell aufgehört und sich ganz auf das Aymara konzentriert. Das hat er jedenfalls gesagt.«
    »Dieser Text . den du mir gezeigt hast, war das auch Aymara?«
    »Anzunehmen.«
    »Und seine Arbeit über die Inka, dieses . wie hast du das genannt? Ethnolinguistisches Forschungsprojekt?«
    »Ja.«
    »Was in aller Welt ist das?«
    »Die Ethnolinguistik ist ein Zweig der Anthropologie und untersucht die Beziehungen zwischen der Sprache und der Kultur eines Volkes«, erklärte sie geduldig. »Wie du weißt, kannten die Inka keine Schrift, und folglich beruhte ihre Kultur auf mündlicher Überlieferung.«
    Zu unterstellen, ich wisse das, war sehr freundlich von Ona. Bei mir weckte dies alles nur vage Erinnerungen an Schulstunden über die Entdeckung Amerikas, über Kolumbus, die drei Karavellen und die Katholischen Könige. Hätte ich auf einer Karte zeigen sollen, wo die Inka, die Maya und die Azteken gelebt hatten, ich wäre ganz schön

Weitere Kostenlose Bücher