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Der verlorene Ursprung

Der verlorene Ursprung

Titel: Der verlorene Ursprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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lohnte es sich nicht, das Auto zu nehmen, aber wir dachten an den Morgen, wie übernächtigt und müde wir sein und wie endlos uns diese zehn Minuten zu Fuß vorkommen würden.
    »An was hat Daniel eigentlich genau gearbeitet?« fragte ich Ona, als wir vor einer roten Ampel halten mußten.
    Meine Schwägerin seufzte. »An diesem bescheuerten ethno-linguistischen Forschungsprojekt über die Inka«, schnaubte sie. »Marta, die Doctora des Fachbereichs, hat ihn kurz vor Weihnachten gefragt, ob er an dem Projekt mitarbeiten wolle. >Eine überaus wichtige Studiec, hat sie gesagt. >Eine Veröffentlichung, die das Ansehen der Fakultät steigern wird< ... Diese Schlange! Sie wollte bloß, daß Daniel für sie schuftet, damit sie am Schluß wie immer die Lorbeeren ernten kann. Du weißt ja, wie das läuft.«
    Mein Bruder war Dozent für Anthropologie der Sprache an der UAB, der Universidad Autónoma de Barcelona, im Fachbereich Sozial- und Kulturanthropologie. Er war von jeher ein hervorragender Student gewesen, hatte akademische Auszeichnungen gesammelt und mit seinen knapp siebenundzwanzig Jahren erreicht, was nur zu erreichen war. Trotzdem, und das wunderte mich, fühlte er sich mir anscheinend unterlegen. Nicht, daß er das offen gesagt hätte, aber seine häufigen Bemerkungen über meine Geschäfte und mein Geld ließen für mich keinen Zweifel daran. Und diese Konkurrenz war wohl auch der Grund, weshalb er sich so in seine Arbeit gekniet hatte. Vor der Erkrankung waren seine Zukunftsaussichten jedenfalls glänzend gewesen.
    »Hast du an der Uni Bescheid gesagt, was passiert ist?«
    »Ja, ich habe heute früh angerufen, bevor ich mich hingelegt habe. Sie brauchen die Krankmeldung, damit sie jemanden als Vertretung einstellen können.«
    Wir schlängelten uns durch eine Traube schweigender Menschen ins Custodia-Krankenhaus. Ein sonderbares Gefühl, wieder hier zu sein, an diesem fremden und bedrückenden Ort.
    Und doch empfand ich ihn bereits als einen Teil meines Lebens, als gehörte er zu mir wie meine Familie. Daß Clifford und meine Mutter da waren, trug sicher dazu bei, doch eigentlich waren die Gefühle schuld, die mich bei Daniels Anblick überkamen.
    Er lag noch genauso da wie am Morgen, als wir ihn verlassen hatten. Sein Zustand habe sich nicht gebessert, berichtete meine Mutter, aber auch nicht verschlechtert. Das sei ein sehr gutes Zeichen.
    »Heute mittag hat der Psychiater, Dr. Hernández, nach ihm gesehen«, erklärte sie weiter, gemütlich im Sessel sitzend; sie wirkte kein bißchen müde. »Übrigens ein ganz reizender Mensch! Nicht, Clifford? So liebenswürdig und warmherzig! Er hat uns sehr beruhigen können, nicht wahr, Clifford?«
    Clifford stand am Bett seines Sohnes und beachtete sie nicht weiter. Vermutlich hatte er sich den ganzen Tag kaum von der Stelle gerührt. Ich ging zu ihm hin, stellte mich neben ihn und sah wie er auf meinen Bruder hinunter. Daniels Augen waren offen und doch ohne jeden Blick. Er schien nichts von dem wahrzunehmen, was um ihn her gesprochen wurde.
    »Diego ... also Dr. Hernández, hat uns versichert, daß es Daniel bald wieder gutgeht, weil nämlich die Medikamente, die er bekommt, zwei oder drei Tage brauchen, bis sie anschlagen, das hat er uns erklärt, nicht, Clifford? Nächste Woche ist Daniel wieder zu Hause, ihr werdet sehen! Ona, Liebes, stell doch die Tasche nicht auf den Boden ... Schau, dort ist der Schrank. Übrigens, ein fürchterliches Krankenhaus! Wieso habt ihr ihn nicht in eine Privatklinik gebracht? Hier gibt es ja noch nicht einmal Stühle für alle!« Sie richtete sich empört in ihrem Sessel auf. »Clifford, sei doch so gut und sieh einmal nach, ob die Schwestern in dieser Schicht ein bißchen entgegenkommender sind und uns noch einen Stuhl überlassen. Die haben doch allen Ernstes behauptet, es gebe auf der ganzen Station keinen freien Stuhl mehr, glaubt man das? Eine Frechheit! Aber sag das denen mal ins Gesicht, diesen . diesen Drachen in ihren weißen Kitteln. Was für unangenehme Personen! Nicht, Clifford? Aber warum gehst du denn nicht und fragst? Bestimmt überlassen sie uns jetzt wenigstens ein Bänkchen oder einen Hocker oder, was weiß ich ... einen Schemel ... Einerlei, irgend etwas zum Sitzen!«
    Und ja, natürlich überließen sie uns etwas, nämlich einen der grünen Plastikstühle aus dem Warteraum. Allerdings erst, als meine Mutter durch die Tür der Station verschwunden war und feststand, daß sie vor dem Morgen nicht wieder auftauchen

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