Der verlorene Ursprung
war.
»Jiwasanakax jutapxtan!« rief unser Führer in barschem Ton, offensichtlich in der Annahme, daß wir ihn nicht verstünden.
»Was hat er gesagt?«, zischelte ich Marta zu.
»Das ist Aymara«, raunte sie fasziniert.
»Natürlich«, sagte ich, »was hast du denn erwartet?«
»Ich weiß nicht ...« Sie zeigte mir ein glückstrahlendes Lächeln. Noch nie hatte ich ein solches Leuchten auf ihrem Gesicht gesehen.
»Ja schön, aber was hat er denn gesagt?« Ich erwiderte unwillkürlich ihr Lächeln.
»Daß wir ihm folgen sollen«, übersetzte sie leise.
Der Yatiri begann den Aufstieg über die sanft ansteigende Rampe. Als ich ihm folgte, wurde mir klar, daß das Holz dieses riesigen Baums äußerst hart sein mußte, denn es gab trotz unseres Gewichts kein bißchen nach, kein Schwanken, nicht einmal das leiseste Vibrieren war zu bemerken. Im Schein der Öllampen hatte es einen warmen, von langen, braun schillernden Maserungen durchzogenen Gelbton und war mit glänzendem Harz spiegelglatt poliert worden. Die aufsteigende Rampe, der wir folgten, wuchs keilförmig, am Ansatz dicker, direkt aus der Wand und endete in einer kleinen, leicht erhöhten Kante. Es gab keinerlei Handlauf, so daß, wer wollte, sich ungehindert in den Abgrund stürzen konnte.
Ich weiß nicht, wie lange wir aufwärts stiegen, aber es dauerte eine ganze Weile, bis wir eine Stelle erreichten, an der die sanfte Steigung unmittelbar in eine weitere Tür mündete, durch die wir dem sympathischen Yatiri folgten. Nach einem kurzen Tunnel betraten wir einen breiten Flur, der zu einer anderen Tür im gegenüberliegenden, etwa fünfzehn Meter entfernten Baum führte. Endlich hatten wir das Sonnenlicht wieder, wenn auch nur für einen Moment. In dieser Höhe schafften es einzelne Sonnenstrahlen, das dichte Laubwerk zu durchdringen. Marc kam jetzt neben mich, dahinter folgten Marta und Lola und als letzte Efrain und Gertrude. Unter uns schwang sich ein weiterer Weg bis zu dem Stamm zu unserer Rechten, und erst der nächste Blick zeigte mir die anderen: Sowohl tiefer unten als auch über unseren Köpfen verband ein dichtes Netz dieser hängebrückenartigen Wege die Baumkolosse. Doch das unglaublichste war: Für diese Verkehrsadern hatten sie die gigantischen Zweige genutzt, die aus den Stämmen wuchsen. Sie hatten sie so geformt und angepaßt, daß sie auf ihnen ganz natürlich hin- und hergelangen konnten. Die einen Wege stiegen an, die anderen führten abwärts, wieder andere neigten sich hier oder verliefen geradeaus. Und alle kreuzten sich in unterschiedlicher Höhe, so daß, wenn man fiel - was bei der Breite der Äste unwahrscheinlich war -, es nur ein paar Meter bis zur nächsttieferen Ebene waren. Diesen Yatiri war es, nachdem sie megalithische Städte erbaut hatten, gelungen, mit der gleichen Genialität und einer nahezu perfekten Technik die lebendige Natur ganz nach ihren Bedürfnissen umzuformen.
Ich machte Marc stumm darauf aufmerksam und auch die anderen, die mir kopfnickend zu verstehen gaben, daß sie ebenso überwältigt waren wie ich. Als wir den nächsten Baum erreichten, stießen wir auf eine Art Platz. Er war riesig und mit den gleichen Öllampen beleuchtet. Eine kleine Gruppe von Yatiri diskutierte im Hintergrund in der Nähe einer Treppe, die nach oben und unten zu ähnlichen Stockwerken zu führen schien. Dort waren auch die ersten Frauen, die wir zu Gesicht bekamen. Anders als die Männer trugen sie kurze, lockere Blusen und knöchellange Röcke. Generell war die Kleidung bunt und farbenfroh wie die der Nachfahren der Aymara auf den kleinen Märkten von La Paz. Und alle, denen wir begegneten, hatten die typischen Goldscheiben in den Ohrläppchen, den Ohrschmuck der Inka. Efrain erklärte uns, das Hemd der Männer heiße Unku. Nach der Konquista hätten die Spanier diese Tracht verboten und per Gesetz angeordnet, Hosen zu tragen. Männer wie Frauen hatten ausnahmslos Ledersandalen an und eine Art Umhang, der ihnen bis zu den Knien reichte. Sie waren meist recht groß, hellhäutig und hatten blauschwarzes Haar, neugierig blickende dunkle Augen und den Gesichtsschnitt der Aymara. Was allerdings unsere besondere Aufmerksamkeit erregte, war der Bartschatten in ihren Gesichtern. Keiner machte Anstalten, uns zu begrüßen oder willkommen zu heißen. Im Gegenteil: Als fürchteten sie sich vor uns, wichen sie zurück bis zur Treppe und bedeckten ihr Gesicht halb mit der Tunika.
In die Wände jenes riesigen Platzes waren Bänke
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