Der verlorene Ursprung
führte. Ich brauchte nicht lange, bis der Groschen fiel: Mit den Khipus waren die Quipus gemeint.
Etwas länger dauerte es, bis mir klar wurde, daß der Khipukamayuq eben der Quipucamayoc war, von dem mir Ona auch schon erzählt hatte. Dieser Gedanke führte mich logischerweise zu einem weiteren: Wenn Khipus dasselbe waren wie Quipus und der Khipukamayuq der Quipu-camayoc, warum sollte man dann Tukapu, also ein auf Stoff gemaltes Kästchen voller Symbole, nicht auch >Tucapu< oder >Tucapo< oder >Tocapu< schreiben? Als ich die erste Möglichkeit als Suchbegriff eingab, bekam ich jedoch nur zwei nicht besonders nützliche Dokumente auf den Schirm, und die zweite Variante ergab noch weniger. Doch mit der dritten und letzten hatte ich Glück: Über sechzig Netzseiten enthielten das Wort >Tocapu<. Ich durfte wohl davon ausgehen, daß mir eine von ihnen die Antwort darauf liefern würde, warum mein Bruder (mehr noch als Rolena Adorno und dieser Cummins) sich für diese bemerkenswerten andinen Textilzeichnungen interessiert hatte, die eine geheime Bedeutung zu haben schienen, welche Guaman Poma nicht hatte verraten wollen.
Gleich beim Überfliegen der Adressen der ersten Seiten stieß ich auf einen bekannten Namen: Miccinelli-Dokumente . Das waren doch die Manuskripte von Marta Torrents Freundin aus dem Privatarchiv mit diesem Quipu, über das mein Bruder eigentlich forschte? Ich klickte den Link an, lud mir die Seite auf den Bildschirm, und da stand es: >Akten des Kolloquium<, Guaman Poma und Blas Valera. Andine Tradition und Kolonialgeschichte. Neue Forschungsergebnisses herausgegeben von Professor Laura Laurencich-Minelli, Inhaberin des Lehrstuhls für Präkolumbische Zivilisationen an der Universität Bologna, Italien. Und was hatte Frau Laurencich-Minelli über die Stoffe mit Tocapu-Streifen zu sagen . ? Beschäftigte sie sich nicht mit Quipus? Nein, ich erinnerte mich, Marta Torrent erforschte die Quipus und, auf ihre Anweisung, mein Bruder Daniel; Frau Laurencich-Minelli arbeitete über die historische und paläographische Seite der Dokumente.
Die Mitte der Achtziger entdeckten Miccinelli-Dokumente umfaßten zwei jesuitische Manuskripte, das Exsul Immeritus Blas Valera Populo Suo und die Historia et Rudimenta Linguae Piruanorum, verfaßt im 16. und 17. Jahrhundert. Sie waren im Jahr 1737 von einem anderen Jesuiten, Pater Pedro de Illanes, zu einem einzigen Band zusammengebunden worden und kurz darauf an Raimondo de Sangro, den Prinzen von Sansevero, verkauft worden. Wahrscheinlich überließ ihn der spanische König Amadeo I. aus dem Hause Savoyen während seines Regierungsintermezzos (1870-1873) seinem Enkel, dem Grafen Amadeo von Savoyen Aosta. Der schenkte ihn schließlich Major Riccardo Cera, dem Onkel der derzeitigen Inhaberin Clara Miccinelli, welche die Manuskripte 1985 im Privatarchiv ihres Onkels fand, dem Cera-Archiv. Ein Teil des zweiten Manuskripts, also der Historia et Rudimenta Linguae Piruanorum, war zwischen 1637 und 1638 in Lima vom italienischen Pater Anello Oliva verfaßt worden, der drei halbe Folia mit dem literarischen Quipu Suma Nusta hinzugefügt und mehrere dazugehörige Knotenschnüre aus Wolle aufgeklebt hatte, die zu diesem Quipu gehörten. Ohne Zweifel das Quipu, mit dem sich Daniel auf Anordnung von Doctora Torrent befaßte!
Eine folgenreiche Entdeckung: Die Miccinelli-Dokumente besagten, daß Guaman Poma das Pseudonym eines mestizischen Jesuiten namens Blas Valera war (eines Schriftstellers und Historikers sowie auf Quechua und Aymara spezialisierten Sprachwissenschaftlers). Und daß die Königlichen Kommentare des Inka Garcilaso de la Vega ein unveröffentlichtes Werk ebenjenes Valera plagiiert hätten, welches dieser Garcilaso de la Vega anvertraut hatte. Er war von der Inquisition als Anführer einer Gruppe verfolgt worden, die nicht nur die Inka-Kultur am Leben erhalten wollte, sondern zudem die Spanier der unvorstellbarsten Übergriffe, Raubzüge und Verbrechen gegen die Indios bezichtigte. Was noch schwerwiegender war: Die Dokumente behaupteten klipp und klar, daß Francisco Pizarro den letzten Inka Atahualpa nicht in der Schlacht zu Cajamarca geschlagen hätte, wie es die Geschichte überlieferte, sondern daß er dessen Offiziere mit Muskatwein vergiftet hatte, unter welchen Rauschrot gemischt worden war, wie das Arsen offensichtlich damals genannt wurde. Zu all diesen Fragen hatte Doctora Laurencich-Minelli eine umfassende Bibliographie der Originaldokumente
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