Der verlorene Ursprung
zusammengestellt, mit denen die Behauptungen belegt und ergänzt wurden. So interessant das Thema auch war, ich brauchte im Augenblick viel mehr die Anmerkungen zu den geheimnisvollen Tocapus und nicht ein weiteres Knäuel Rätsel.
Schließlich kam ich an die Stelle des Aufsatzes, die ich suchte. Kaum hatte ich den Titel des Abschnitts gelesen, da verstand ich, warum mein Bruder, ein Sprachanthropologe, sich so für die Inka-Stoffe und ihre Muster interessiert hatte. Eigentlich hätte ich bereits angesichts der allgemeinen Datenlage darauf kommen müssen, aber als blutiger Laie hatte ich einfach ein Brett vor dem Kopf. Der Titel lautete: Quipus und Textilmuster als Schriftsysteme. Ich kam mir vor wie ein Vollidiot, nicht nur, weil ich so blind gewesen war, sondern auch, weil jetzt auf der Hand lag, daß Marta Torrent sich mit Tocapus mindestens genausogut auskennen mußte wie mit Quipus. Ohne Zweifel wußte sie all das, was ich bisher herausgefunden hatte, wahrscheinlich sogar mehr. Nicht umsonst waren die Miccinelli-Dokumente durch ihre Hände gegangen und sie mit der Verfasserin des Aufsatzes befreundet.
Jedenfalls schrieb diese Kollegin von Marta Torrent, daß in den Miccinelli-Dokumenten Quipus wie Tocapus mit unseren Büchern verglichen wurden. Und auch wenn es in ihrem Aufsatz fast ausschließlich um die Quipus ging, erwähnte sie doch in einem Satz die Notwendigkeit, die Illustrationen der Neuen Chronik und guten Regierung von Guaman Poma alias Blas Valera aufmerksam zu studieren, da sie Geheimtexte enthielten, und zwar in den Tocapus, die wie Verzierungen auf die Gewänder gezeichnet worden waren und mit den richtigen Mitteln vielleicht entziffert werden konnten.
Gedankenversunken kehrte ich zu Guamans Chronik zurück (wenn dies der richtige Name des Autors war) und blätterte die Bilder noch einmal durch, die mich so beeindruckt hatten. Jetzt sah ich die Tocapus auf den Gewändern in neuem Licht, und mir war, als hätte ich eine Wand mit ägyptischen Hieroglyphen vor mir. Obwohl ich sie nicht lesen konnte, war es eine Schrift voller Worte und Ideen.
Nur eine Frage hatte ich noch - aber offen gestanden fühlte ich mich in dieser Nacht nicht mehr in der Lage, die Antwort herauszufinden: In welcher Sprache waren die Tocapus verfaßt? Die Knoten dienten zweifellos dazu, etwas auf Quechua festzuhalten, der Sprache der Inka und ihrer Untergebenen, das war mir inzwischen klar. Und dasselbe schien auf die Tocapus zuzutreffen. Zwei gleichermaßen geheimnisvolle Schriftsysteme für dieselbe Sprache ...? Und was zum Teufel hatte dann das Aymara mit der ganzen Sache zu tun?
»Mail an Jabba«, rief ich entmutigt, und ohne daß ich mich gerührt hätte, wurden die Bildschirme hell. Der schwarze Cursor blinkte, während sich ein Mailprogramm öffnete, das mit der Spracherkennung bedient werden konnte. »Guten Morgen, Ihr zwei!« fing ich an zu diktieren, und die Wörter erschienen automatisch in dieser Reihenfolge auf den Schirmen.
»Daran, um wieviel Uhr ich Euch diese Mail schicke, könnt Ihr sehen, was für eine Nacht ich hinter mir habe. Ich bitte Euch, noch mehr über das Aymara herauszufinden. Konkret: jede Beziehung zwischen dem Aymara und den sogenannten Tocapus.« Der Rechner hielt nach >sogenannten< inne. »Ich buchstabiere: T wie Toledo, O wie Orense, C wie Caceres, A wie Alicante, P wie Palencia, U wie Urgell und S wie Sevilla.«
Das korrekt geschriebene Wort erschien. »Speichern: Tocapu. Bedeutung: Inka-Stoffe mit geometrischen Mustern. Plural: Tocapus. Weiter mit der Mail an Jabba. Das Quechua interessiert dabei nur, wenn es etwas mit den Tocapus und dem Aymara zu tun hat, sonst nicht. Ich gehe jetzt schlafen, bin aber nachmittags im Krankenhaus bei Daniel, falls Ihr mich sucht. In einer zweiten Mail schicke ich Euch etwas von dem Material, das ich nicht entziffern konnte. Vielleicht könnt Ihr mir ja auf die Sprünge helfen. Euch einen schönen Sonntag und danke. Grüße, Root. Ende der Mail an Jabba. Verschlüsselung: normal. Priorität: normal. Senden.«
Ich nahm aus der ledernen Aktentasche die Karte mit den Windrosen und das Bild des bärtigen Mannes ohne Körper (Humpty Dumpty) und legte sie auf meinen leistungsstärksten Scanner. Ich wollte die höchste Auflösung, auch wenn die Dateien riesig wurden. Jabba und Proxi sollten schließlich nicht mit unscharfen Bildern zu kämpfen haben.
»Bild eins und zwei auswählen«, sagte ich abschließend, machte es mir im Sessel bequem und stützte den
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