Der verlorene Ursprung
Kopf auf die linke Faust. »Mail an Jabba. Ausgewählte Dateien einfügen.
Ende der Mail an Jabba. Verschlüsselung: normal. Priorität: normal. Senden.«
Die Bildschirme erloschen, und ich blätterte weiter mechanisch in der Neuen Chronik, bis ich auf den nächsten gelb markierten Absatz stieß. Genau in diesem Augenblick schalteten sich die Monitore wieder ein, und eine Systemnachricht teilte mir mit, daß es sieben Uhr war. Anschließend erschien in einer meisterhaften Überblendung eins meiner Lieblingsbilder: Harmatan von Ramon Enrich. Mit einem Mal schienen in mir alle Alarmglocken gleichzeitig zu schrillen, und ich fühlte mich schlagartig wie gerädert. War ich vielleicht fix und fertig! Wie lange ich wohl schon dasaß und las und surfte? Ich hatte keine Ahnung, wann ich eigentlich damit begonnen hatte. Laut gähnend reckte ich mich im Sessel, bis ich steif war wie ein Brett. Mir kamen die unzähligen Nächte in den Sinn, die ich am Computer verbracht hatte, um fremde Systeme zu knacken. Solche Herausforderungen faszinierten mich immer wieder, und wenn ich es endlich geschafft hatte, schwebte ich auf Wolke sieben und war stolz wie Oskar. Das Gefühl der Befriedigung war einfach mit nichts anderem auf der Welt zu vergleichen.
Auch nach dieser Nacht fühlte ich mich göttlich, trotz der Müdigkeit oder vielleicht gerade deshalb, und bevor ich vom Schlaf übermannt ins Bett fiel, entschied ich in einem abschließenden Delirium, ab sofort meinen tag durch ein Akronym von Arnau Capac Inka zu ersetzen. Der mächtige König Arnau - das klang wie Musik in meinen Ohren. Etwa so gut wie das sanfte und melancholische Klavierstück von Eric Satie, bei dem ich einschlief, das Fragment Nr. 1 der Gymnopedies. Satie hatte immer gesagt, Gymnopedies bedeute >Tanz der nackten Spartanerinnen<, aber eigentlich glaubte jeder, daß er sich das ausgedacht hatte. Mich ließ es ehrlich gesagt nicht so sehr an nackte Frauen wie an die Tausenden, wenn nicht Millionen, von Menschen denken, die in Amerika im Kampf gegen die Tyrannei der spanischen Krone und der Kirche ihr Leben gelassen hatten.
Als ich gegen Mittag erwachte, waren im Haus merkwürdige Geräusche zu hören. Zuerst dachte ich, meine Großmutter sei einfach früh aufgestanden. Doch sie war eine sehr rücksichtsvolle alte Dame und hätte nie einen derartigen Lärm veranstaltet, solange jemand schlief. Natürlich hätte es meine Mutter sein können, der solcherlei Rücksichtnahme nicht im Traum einfiel, aber sie war ja wohl mit Clifford seit dem frühen Morgen im Krankenhaus. Also blieben auf der Liste möglicher Übeltäter nur noch Magdalena und Sergi, der Gärtner, die jedoch automatisch wegfielen, da Sonntag war. Diese messerscharfen Schlußfolgerungen á la Sherlock Holmes stellte ich noch im Halbschlaf an. Es gibt nichts Besseres als ein paar handfeste logische Überlegungen mit einem Höllenlärm im Hintergrund, um das erschöpfteste Hirn hochzufahren.
Ich sprang aus dem Bett und tastete mich mit geschlossenen Augen stolpernd über den Gang in die Richtung, aus der das Getöse kam. Glücklicherweise schlief meine Großmutter wie ein Stein. Die Medizin behauptet ja, alte Menschen brauchten weniger Schlaf als junge. Die über achtzigjährige Doña Eulália Monturiol i Toldrá, deren geistige Brillanz an einen dieser funkelnden scharfkantigen Quarzkristalle erinnerte, schlief jedoch täglich ihre zehn bis elf Stunden. Und nichts konnte sie in dieser gesunden Gewohnheit stören, nicht einmal Nachtwachen im Krankenhaus am Bett eines ihrer Enkel. Sie prahlte immer mit ihrer Urgroßmutter, die hundertundzehn Jahre alt geworden war und angeblich noch länger geschlafen hatte. Meine Großmutter hatte vor, dieses Alter weit zu übertreffen, doch meine Mutter war entsetzt über eine solche Verschwendung von Lebenszeit. Sie machte ihr Vorhaltungen und riet ihr, den Schlaf auf sieben Stunden zu reduzieren, wie es die Spezialisten empfahlen. Meine Oma, die an Sturheit nicht zu übertreffen ist, sagte nur, die Ärzte hätten heutzutage keine Ahnung von Lebensqualität. Über ihrem Kampf gegen Krankheiten sei ihnen die Grundvoraussetzung für gute Gesundheit entfallen, nämlich wie ein König zu leben.
Als ich im Zentrum des Getöses angelangt war, schaffte ich es mit Mühe, die Augen zu einem Blinzeln zu öffnen, und erblickte Jabba und Proxi, die in meinem Büro zwischen Kabeln, Rechnergehäusen - die, wie ich sehen konnte, aus dem >100< stammten - und diversen
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