Der verlorene Ursprung
Sekunden später rief dieser Joffre Viladomat wieder an. »Anruf ablehnen«, wiederholte ich, und der Rechner meldete zum zweiten Mal das Besetztzeichen weiter. Doch auch dadurch ließ sich Viladomat nicht abwimmeln. Ich schätze, daß ich zu jeder anderen Zeit alle von diesem Anschluß stammenden Anrufe einfach kategorisch abgewiesen hätte, aber ich war wohl gerade nicht in bester Form. Beim dritten Mal ging ich ran, wenn auch ziemlich genervt. Als ich die unvergeßliche Altstimme einer absolut hassenswerten Person vernahm, erstarrte ich.
»Herr Queralt?« Warum stattete die Natur so unerträgliche Personen wie diese Doctora mit einem so perfekten Werkzeug wie dieser Stimme aus? »Guten Tag, hier ist Marta Torrent, die Leiterin der Abteilung, in der Ihr Bruder arbeitet.«
»Keine Sorge, ich kann mich gut an Sie erinnern. Sie wünschen?« Ich kam aus dem Staunen kaum heraus.
»Hoffentlich stört es Sie nicht, daß Mariona mir Ihre Nummer gegeben hat!« Ihre melodiöse Stimme war wirklich einmalig.
»Sie wünschen?« wiederholte ich, ohne auf ihre Umschweife einzugehen.
Sie schwieg einen Augenblick. »Ich merke schon, daß Sie ärgerlich sind. Ehrlich gesagt, bin ich der Meinung, daß Sie keinen Grund dazu haben. Ich bin es, die verärgert sein müßte, und trotzdem rufe ich Sie an.«
»Doctora Torrent, bitte, sagen Sie mir endlich, was Sie wünschen!«
»Also, ich kann Ihnen das Material, das Sie mir gestern gezeigt haben, nicht einfach überlassen. Sie glauben, daß ich versuche, mir Daniels Forschungsergebnisse unrechtmäßig anzueignen. Das sehen Sie falsch. Ich würde gern in Ruhe mit Ihnen darüber reden ...«
»Verzeihung, aber ich meine mich daran zu erinnern, daß Sie Daniel des Diebstahls bezichtigt haben!«
»Zugegeben. Nur ein Teil der Dokumente ist mein Eigentum. Der andere gehört wirklich Daniel, dabei ist offensichtlich, daß er sich diese Dokumente erst später besorgt hat. Señor Queralt, die Angelegenheit ist ausgesprochen heikel. Wir sprechen über eine sehr wichtige Arbeit, die viele Jahre der Forschung gekostet hat. Bitte verstehen Sie, daß es für die akademische Welt eine Katastrophe wäre, wenn auch nur eine der Unterlagen verloren ginge oder in die falschen Hände geriete. Sie sind Informatiker und können sich daher nicht im entferntesten die Bedeutung dieses Materials vorstellen. Bitte geben Sie es mir zurück.«
Nicht nur ihre Stimme erinnerte an eine Fernsehansagerin, sondern auch ihre Wortwahl und Betonung. Aber weder Stimme noch Ausdrucksweise konnten verhehlen, wie eilig es die Doctora hatte, an die Dokumente zu kommen.
»Warum warten Sie nicht ab, bis Daniel sich wieder erholt hat?«
»Sich wieder erholt hat?« fragte sie ironisch. »Glauben Sie wirklich, daß er sich wieder erholen wird? Denken Sie doch mal nach, Señor Queralt.«
Marta Torrent hatte erneut die Grenze überschritten, diesmal endgültig.
»Zeigen Sie ihn doch an, wenn Sie die Dokumente haben wollen!« brachte ich wütend hervor und unterbrach die Verbindung mit der Escape-Taste. »Alle Anrufe dieser Nummer zurückweisen«, donnerte ich, »außerdem alle vom Inhaber dieser Nummer, wer auch immer es ist, ob Marta Torrent oder das Institut für Anthropologie der Universität Bellaterra.«
Mit großen Schritten lief ich aus dem Schlafzimmer und fragte mich, warum zum Teufel ich mich mit Leuten dieser Sorte abgeben mußte. Gesetzt den Fall, Daniel war wirklich ein Dieb, was ich für absolut ausgeschlossen hielt, und gesetzt den Fall, daß alles stimmte, was diese Hexe sagte - konnte sie sich die Dokumente nicht auf andere Weise zurückholen? Mußte sie meinen Bruder beleidigen, mich sonntags nachmittags zu Hause anrufen und andeuten, daß Daniel nie wieder gesund werden würde? Was zum Teufel hatte sich diese Frau gedacht? Hatte sie denn überhaupt kein Gewissen? Das mit der Anzeige hatte ich ernst gemeint. Ich würde ihr erst dann glauben. Allerdings bezweifelte ich stark, daß ich es jemals auch nur im entferntesten für möglich halten würde, daß mein Bruder Daniel sich Forschungsmaterialien auf illegalem Wege angeeignet haben konnte. Schon als wir klein waren, hatte er jedesmal einen Zettel hingelegt, wenn er sich etwas von mir nahm! Mein Bruder konnte gar nichts stehlen oder etwas nutzen, was ihm nicht gehörte. Davon war ich überzeugt. Also gab es nur den einen Schluß: Marta Torrent hatte etwas in Daniels Dokumenten entdeckt, das sie so sehr interessierte, daß sie dafür bereit war zu verletzen,
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