Der verlorene Ursprung
zu beleidigen und niederträchtig zu lügen. Ona hatte sie damit vielleicht überzeugen können, aber nicht mich. Die Doctora hatte das Pech gehabt, auf mich zu stoßen. Sie würde es noch sehr schwer haben, wenn sie meinte, sich die Arbeit meines Bruders unter den Nagel reißen zu können. Leiterin eines Universitätsinstituts wird man nicht, wenn man ein Herz aus Gold hat. Nur die Leithammel, die wahren Haifische, können bei solcher Konkurrenz gedeihen. Und gute Menschen wie mein Bruder waren normalerweise ihre Opfer, waren die Stufen, auf die getreten wird, damit andere aufsteigen konnten. Ich hatte mich hilfesuchend an die Torrent gewandt und damit ein Ungeheuer geweckt. Ich hätte Daniels Material niemals ans Licht zerren dürfen. Doch jetzt war nicht die Zeit für Selbstvorwürfe. Jetzt ging es darum, so schnell wie möglich herauszufinden, was die Doctora in den Unterlagen gesehen und was ihre Gier geweckt hatte.
Montagmorgen erwachte ich um acht. Ein langer, harter Arbeitstag stand mir bevor, aber ich hatte nicht diesen Montagsblues wie sonst immer. Nichts war mehr so, wie es gewesen war, bevor Daniel krank wurde. Ich mußte nicht in mein Büro gehen und mir von Nuria die lange Reihe vorgesehener Besuche und Besprechungen anhören, mich dabei meines Sessels bemächtigen und über das System mit den Kanälen weltweiter Wirtschafts- und Börseninformationen verbinden. Ich mußte weder Videokonferenzen mit New York, Berlin oder Tokio abhalten noch mich mit Technikern und Programmierern von Expertensystemen, Neuronalnetzen, generischen Algorithmen oder diffuser Logik zusammensetzen. Meine einzige Verpflichtung bestand darin, entspannt in der Sonne zu frühstücken und auf die Ankunft von Jabba und Proxi zu warten. Wir hatten uns am Abend zuvor für neun Uhr verabredet. Dann waren die beiden nach Hause gegangen und hatten - das muß hier mal gesagt werden - in meinem Büro einen Trümmerhaufen hinterlassen.
Meine Großmutter kam wie angekündigt aus dem Krankenhaus zurück, als ich gerade meinen Tee schlürfte und im Garten den anbrechenden Morgen genoß. Die Art, wie sie mit den Absätzen klapperte, schnaufte und mit Magdalena und Sergi sprach, ließ darauf schließen, daß sie kurz vor einem Headcrash war.
Wie ein Hurrikan stob sie in den Garten und zog sich die dicke Jacke aus, die sie nachts im Krankenhaus gerne trug. Bei meinem Anblick lösten sich ihre angespannten Gesichtszüge in ein liebevolles Lächeln auf, das jedoch von einem Stoßseufzer unterbrochen wurde: »Als ich deine Mutter zur Welt gebracht habe, ging’s mir wohl zu gut!« war das erste, was sie sagte, während sie sich neben mir in einen Sessel fallen ließ und mir als Gruß mit der Hand über die unrasierte Wange strich.
»Nimm sie einfach nicht so ernst, Oma!« Ich rekelte mich genüßlich und reckte dabei die Arme in den strahlendblauen Himmel. Sobald meine Mutter und meine Großmutter ein paar Tage zusammen waren, brach der dritte Weltkrieg aus. Diesmal hatten die Feindseligkeiten auf sich warten lassen, da sie sich bisher kaum gesehen hatten. Doch wie zu erwarten, waren sie schließlich an diesem Tag bei einer ihrer kurzen Begegnungen am Schichtende aufgetreten. »Du weißt doch, wie sie ist.«
»Deshalb sage ich es ja. Herrgott, wie komme ich bloß zu einer derart engstirnigen Tochter?! Ja, ihr Vater war ein Hallodri, aber er war doch nicht auf den Kopf gefallen. Woher das Mädchen das nur hat? Wenn du wüßtest, wie oft ich mich das schon gefragt habe!«
Das Mädchen, wie sie sagte, hatte die Schwelle zu den Sechzigern bereits überschritten.
»Wie war die Nacht?« fragte ich, um das Thema zu wechseln.
Meine Großmutter senkte den Blick auf die Teekanne und strich traurig die Ecke meiner Serviette glatt. »Daniel war sehr unruhig. Er hat nicht aufgehört zu reden.«
Wir schwiegen und betrachteten Sergi, der diskret hinter den Oleanderbüschen vorbeiging.
»Möchtest du was trinken?« fragte ich sie.
»Ein Glas heiße Milch.«
»Fettarm?«
»Bleib mir bloß weg damit! Ich trinke doch kein Spülwasser! Nein, richtig normale Vollmilch.«
Ich brauchte mir nicht die Mühe machen, darum zu bitten.
Das System übertrug den Wunsch an Magdalena, egal, in welchem Teil des Hauses diese sich gerade aufhielt. »Gestern abend war er doch ganz ruhig«, bemerkte ich in Gedanken an meinen kurzen Besuch.
»Gestern abend, ja«, nickte sie und knetete sich das plattgedrückte Haar mit einer müden Handbewegung in Form, »ich weiß auch
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