Der verlorene Ursprung
für ein Konzept oder eine Sache und für einen Klang stand. Doch JoviLoom verband manchmal auch zwei oder drei Tocapus zu einer einzigen Endung oder Wurzel.
»Ich glaube, das sind dann zusammengesetzte Wörter, so wie >Fußtritt< oder >Kilometerzähler<.« Jabba war in seinem Element.
»Schalt dein Hirn ab, du Schlauberger!« befahl ihm Proxi.
JoviLoom konnte auch eine Druckversion des Ergebnisses erstellen, aber für die paar Aymara-Worte, die wir inzwischen kannten, erübrigte sich das.
»Und wenn diese absurde Handvoll Konsonanten gar kein Aymara ist?« Der Gedanke alarmierte mich.
»Und was zum Teufel soll es dann sein?« gab Jabba zurück.
Zweifel nagte an uns, und ein bleiernes Schweigen machte sich breit, denn uns wurde schlagartig bewußt, daß wir gefangen waren. Wir hatten nichts in der Hand, um zu überprüfen, ob dieses Kauderwelsch ohne Vokale wirklich mit der Sprache der Colla übereinstimmte. Ausgerechnet in diesem Moment mußte meine Großmutter hereinplatzen, um sich auf dem Weg ins Krankenhaus von uns zu verabschieden. Die Arme verließ das Haus, ohne daß mehr als ein Knurren über unsere Lippen gekommen wäre.
Doch zum Glück entdeckten wir bald darauf in einem der Ordner mehrere Dateien mit bereits fraktionierten Buchstabensuppen sowie gleichnamige Textdateien, in denen die jeweilige Version in lateinischen Buchstaben gespeichert war. Daniel hatte die Wörter rekonstruiert und vervollständigt, und - oh Wunder! - der resultierende Text war tatsächlich auf Aymara. Selbstverständlich waren diese Rekonstruktionen für uns weiterhin Kauderwelsch, aber jetzt konnten wir zumindest einige Ausdrücke in den Wörterbüchern von Ludovico Bertonio und Diego Torres Rubio nachschlagen. Außerdem hatte mein Bruder einige Dateien sogar übersetzt, zum Beispiel Amayan Marcapa hiuirinacan ucanpuni cuna huchasa camachisi oder, was dasselbe ist: >Vom Toten in seinem Dorf die Sterblichen in diesem immer irgendeine Sünde begangen wird<. Angesichts dieses Wirrwarrs befanden wir, daß wir an einem toten Punkt angelangt waren. Inzwischen war es zudem dunkel geworden, und Clifford und meine Mutter erwarteten uns seit über einer Stunde zum Abendessen ...
Obwohl das Ergebnis dieses Tages kaum noch zu übertreffen war, machten wir unsere spektakulärste Entdeckung am Tag darauf, einem Dienstag, und zwar kurz nachdem wir mit der Arbeit begonnen hatten. Fast zufällig stießen wir im Laptop auf ein ziemlich großes Dokument mit dem Titel Tiahuanaco.doc, das aus unerfindlichen Gründen in einem der riesigen Bilderordner abgespeichert war. Begeistert stellten wir fest, daß darin übersetzte Aymara-Texte zusammengestellt waren, deren Originale wir in der gewaltigen digitalisierten Sammlung von Stoffen und Keramikobjekten vermuteten. Die Fragmente waren unterschiedlich lang, einige sehr umfangreich und andere mit ein oder zwei Zeilen sehr kurz. Aber alle berichteten sie von einem mystischen und heiligen Ort namens Taipikala, so daß wir zunächst nicht verstanden, warum in aller Welt der Dateiname Tiahuanaco lautete. Taipikala bedeutete Daniel zufolge >Stein in der Mitte< oder >mittlerer Steine. Dort, in Taipikala, war der erste Mensch geboren worden als Sohn einer vom Himmel herabgestiegenen Göttin namens Oryana und eines irdischen Tieres. Nachdem Oryana siebzig Geschöpfe geboren und so ihre kuriose Mission mit Zins und Zinseszins erfüllt hatte, kehrte sie in die Tiefen des Weltalls zurück. Ihre zahlreiche Nachkommenschaft jedoch - anscheinend Giganten, die Hunderte von Jahren lebten - errichtete ihr zu Ehren Taipikala, wo sie jahrtausendelang verehrt wurde, bis ein schreckliches Erdbeben (das Himmel, Sonne und Sterne verdunkelte) und eine anschließende Sintflut den >Mittelstein< und fast die gesamte Bevölkerung versinken ließen, so daß die Rasse der Giganten für immer unterging. Deren kränkliche und geschwächte Nachkommen waren in jeder Generation ein wenig kleinwüchsiger und starben früher. Da sie die Lehren Oryanas weitertrugen und es verstanden, die natürlichen Klänge zu nutzen und die heilige Sprache zu sprechen, waren sie weiterhin Yatiri.
Ich glaube, an diesem Punkt merkten wir langsam, wie der Hase lief. Wenn wir den Mythos reduzierten und uns nur auf die signifikanten Daten konzentrierten, bestätigte die aus verstreuten Tocapu-Fragmenten zusammengestoppelte Legende, was wir auf unsere Weise herausgefunden hatten. Es sah ganz danach aus, als sei Taipikala mit Tiahuanaco identisch, und der
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