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Der verlorene Ursprung

Der verlorene Ursprung

Titel: Der verlorene Ursprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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verunreinigt werden durfte. Deshalb waren sie gezwungen, sich nur untereinander fortzupflanzen.
    »Donnerwetter! Endlich mal was Erfreuliches!« rief Proxi mit plötzlicher Befriedigung aus. »Die Kaste der Yatiri bestand nicht nur aus Männern!«
    »Ist doch logisch, daß es auch Frauen gegeben haben muß!«
    Jabba war dabei, den Inhalt einer Kekstüte in sich hineinzustopfen. »Bis jetzt hat das bloß kein Dokument erwähnt.«
    »Das ist es ja gerade!« Proxi deutete anklagend mit dem Zeigefinger auf uns. »Ihr haltet es für selbstverständlich, daß sich die geschlechtslosen Wörter nur auf Männer beziehen!«
    »Stimmt doch gar nicht!« Ich sprang auf. »Es ist nur so, daß Daniel den maskulinen Pluralartikel vor das Wort >Yatiri< setzt.«
    »Und was ist Daniel wohl?« knurrte sie verächtlich. »Ein Mann! So ist das eben immer. Jabba, erinnerst du dich daran, was wir über die Grammatik des Aymara in bezug auf das Genus gelesen haben?«
    Jabba nickte mit vollem Mund, kaute aber eifrig weiter.
    Also fuhr Proxi fort: »In dieser perfekten Sprache gibt es keine Geschlechtsunterschiede. Es gibt kein >sie< und kein >er<, kein >ihr< und kein >seine.«
    »Ist eh alles dasselbe«, nuschelte Jabba, Kekskrümel versprühend.
    »Auch Artikel und Adjektive haben kein Geschlecht. Es gibt zum Beispiel nicht die Unterscheidung zwischen >eine neuee und >ein neuere oder >eine hübschee und >ein hübschere.«
    »Ist beides dasselbe.«
    »Ganz genau. Also kann das Wort >Yatirie sich sowohl auf Männer als auch auf Frauen beziehen.«
    »Ob das nun stimmt oder nicht . «, wagte ich einzuwerfen, »ist im Augenblick ziemlich Wurscht. Okay, es gab auch Frauen unter den Yatiri, aber was mir viel wichtiger erscheint, ist diese Geschichte mit dem heiligen Blut, das nicht verunreinigt werden durfte. Erinnert euch das nicht an die Langohren?«
    Jabba wollte mir antworten, hatte aber den Mund voll und verschluckte sich fast. Er hustete, klopfte sich dabei auf die Brust und schob die Kekstüte von sich - und damit wohl auch die Versuchung, die davon ausging. Er runzelte die Stirn: »Hast du denn nicht gemerkt, daß diese Geschichte im Grunde die gleiche ist wie die über Viracocha, nur ohne Viracocha? Das mit den zwei Menschenrassen, den Giganten, die er mit Feuersäulen und der Sintflut zerstört hat, und der anderen, aus der die Inka hervorgingen?! Die Legenden ähneln sich sogar in dem Abschnitt über die Sonne. Hast du nicht gesagt, daß Viracocha sie aus dem Titicacasee gezogen hat, um nach der Sintflut den Himmel zu beleuchten?«
    Ich fluchte über meine mangelnde Auffassungsgabe. Jabba war schneller gewesen, und wieder einmal hatte er recht. Um meine Verlegenheit zu überspielen, starrte ich auf den Bildschirm des Laptops und tat, als hätte mir die Überraschung die Sprache verschlagen.
    Während Jabba und ich uns wieder daranmachten, die Auswahl an Tocapu-Texten meines Bruders durchzulesen, begann Proxi an einem der anderen Rechner zu arbeiten. Ich sah, daß sie sich mit verschiedenen Suchmaschinen plagte, fragte aber nicht nach. Sie würde sich schon bemerkbar machen, wenn sie gefunden hatte, was sie suchte.
    Die von Daniel angefertigte Chronik ging mit dem Bericht über ein großes Erdbeben weiter, dem Hunderte von Menschen zum Opfer fielen, ebenso die meisten Gebäude Taipikalas, an denen bereits der Zahn der Zeit, das vorherige Beben und die darauffolgende Sintflut genagt hatten. Es war nichts mehr zu retten. Angesichts des Umfangs der Katastrophe mußten folgenschwere Entscheidungen getroffen werden, was zu ernsthaften Auseinandersetzungen unter den herrschenden Capacas führte. Die Gründe für die entscheidende Konfrontation wurden allerdings nicht näher erläutert in dem knapp zwei Seiten langen Gedicht oder Lied, dessen Verse, unterbrochen von der Leier wiederkehrender Refrains, daran erinnerten, wie schmerzhaft der Zusammenstoß gewesen war und wie würdig und ehrenvoll die Parteien gekämpft hatten. Der Zwist wurde durch den Abzug einer stattlichen Gruppe von Capacas aus der Stadt beigelegt, gefolgt von Yatiri und Bauern, die über die Anden in einem Exodus gen Norden zogen. Nach langer Wanderung kamen sie schließlich in ein reiches, sonniges Tal, das sie für geeignet hielten, um dort ein zweites Taipikala zu gründen, welches sie Cuzco tauften, den >Nabel der Welt<, in Anlehnung an den >Mittelstein<. Doch die Dinge liefen nicht so wie geplant, und aus den ständigen Kriegen gegen die Nachbarvölker ging ein Kriegsherr

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