Der verlorene Ursprung
Fortgang des Textes bestätigte unsere Vermutung.
Lange Zeit nach der Sintflut tauchte Willka, die Sonne, endlich wieder auf, und zwar aus dem Nebel über einer großen Lagune namens Kotamama (Titicaca?), an der Taipikala lag. Dort erblickten sie zum ersten Mal die erschöpften - und wahrscheinlich halb erfrorenen - Menschen, die fürchteten, sie könne wieder verschwinden. Sie begannen, der Sonne auf jede nur erdenkliche Weise mit Zeremonien und Opfern zu huldigen. Unter der Herrschaft der weisesten Yatiri, die Capaca genannt wurden, erstand die Stadt Taipikala langsam wieder aus den Ruinen. Sie machten den Sonnenkult zum Mittelpunkt ihrer neuen, schrecklichen Religion. Willka durfte nicht wieder verschwinden, denn von ihr hing der Fortbestand der menschlichen Rasse ab. Ginge Willka wieder fort, müßten alle sterben und mit ihnen die gesamte Natur. Also wurde die Sonne zu einem Gott und Taipikala zu ihrer heiligen Stadt. In Taipikala wurde Willka mit großem Pomp an den Stein der Sonnenwende gekettet, den sogenannten >Stein zum Anbinden der Sonne<: Eine lange, dicke Goldkette sollte die Sonne in der Raumzeit festhalten. Trotzdem befreite sie sich ab und zu und verschwand, und das Entsetzen kam über die Einwohner Taipikalas. Doch die Capaca banden sie wieder an den Stein und ließen sie nicht mehr fort. Sie vergaßen Oryana nicht, aber die war nicht mehr da, und Willka war unmittelbar für die praktischen Zwecke sehr viel bedeutender. Auch Thunupa war ein wichtiger neuer Gott. Er war aus der Angst geboren und verkörperte die Macht des Wassers und des Blitzes, der den Sturm ankündigt. Auch wenn Thunupa nicht so bedeutend war wie Willka, ergänzten sich die beiden in ihrer Aufgabe, eine neue Katastrophe zu verhindern. Seit der Sintflut hatten sich die Regenzeiten auf seltsame Weise verändert, so daß die frühere Fruchtbarkeit der Erde dahin war. Auch deshalb waren Willka und Thunupa, die Sonne und das Wasser, die wichtigsten Götter des Taipikala-Pantheons.
Die Yatiri wurden zu den Bewahrern der alten Weisheit und bekleideten daher bald die einflußreichsten weltlichen und geistigen Ämter. Die Welt hatte sich sehr verändert. Sogar die Kotamama-Lagune, die früher bis zu den Hafenkais von Taipikala reichte, hatte sich zurückgezogen, doch die Yatiri konnten weiterhin Krankheiten heilen und die Sonne tagtäglich am Himmel halten. Bald waren die Yatiri eine besondere Kaste geworden: Sie sprachen eine eigene Sprache, widmeten sich der Beobachtung der Sterne und konnten die Zukunft vorhersagen. Sie lehrten auch, wie das Wasser von der großen Lagune bis zu den entlegenen Pflanzungen geführt werden konnte, um trotz der Kälte, die seit der Sintflut die Gegend heimsuchte, gute Ernten zu ermöglichen. Der heiligste Ort von Taipikala war die Pyramide des Reisenden, die abseits von den anderen Gebäuden lag. In ihr wurden die Goldtafeln aufbewahrt, auf denen alles niedergeschrieben war, was die Yatiri über das Universum und das Leben wußten, damit es nicht in Vergessenheit geriete: die Erinnerung an die Schöpfung der Welt, die Ankunft Oryanas, die Geschichte der Giganten, der Sintflut und der Wiedergeburt der Menschheit nach der Rückkehr der Sonne. Außerdem umschloß die Pyramide des Reisenden wichtige Zeichnungen, die das Firmament und die Erde vor und nach der Katastrophe abbildeten, und sie beherbergte den Körper des Reisenden und sein Gepäck zum Bereisen der Welten für den Tag, an dem er aus dem Jenseits zurückkehren würde.
Obwohl wir diese Aymara-Legenden sehr unterhaltsam fanden, mußten wir zugeben, daß sie nicht mehr waren als Kindermärchen, die uns keine wirklich interessanten Informationen lieferten. Viele der Textfragmente, die mein Bruder ehrfürchtig zusammengetragen hatte, priesen die Weisheit, den Mut und die übernatürlichen Kräfte der Yatiri und ihrer Capa-cas. Da sie auf Textilien und Keramiken festgehalten worden waren, die sehr viel später datierten, war jedoch offensichtlich, daß ihre Botschaften von mystischen Verbrämungen und einer gewissen Nostalgie geprägt waren und uns nicht wirklich nutzten. Die Yatiri hatten große Taten vollbracht, na und? Wie schön für sie!
Proxi verfluchte längst Taipikala, und Jabba hatte sich auf der Suche nach Eßbarem in die Küche verkrümelt, da tauchte endlich die erste wirklich brauchbare Information auf: In den Adern der Yatiri, als Priester der Göttin Willka und direkten Nachfahren der Riesenkinder Oryanas, floß heiliges Blut, das nicht
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