Der verlorene Ursprung
hervor, der Yatiri Manco Capaca, auch als Manco Capac bekannt - nicht mehr und nicht weniger als der erste Inka.
Während wir die Aymara-Version der Geschichte kennenlernten, vermischten sich vor unseren Augen wieder einmal Wahrheit und Legende. Aber das war noch nicht alles: Die Capacas aus Cuzco behielten ihre Priester- und Heilerfunktion und wurden mit der Zeit >Kamili< genannt. Das Wissen um ihre Herkunft verlor sich jedoch in den Aufstiegswirren des Imperiums. Sie gingen in der Gruppe der Kallawaya-Ärzte auf, die den langohrigen Inka-Adel behandelten. Ihnen wurde nachgesagt, sie hätten eine eigene, geheime Sprache, die niemand verstünde und die ihnen als Erkennungszeichen diente. Während sich die Spur dieser Yatiri-Gruppe also unaufhaltsam verwischte, bescheinigten die Texte den Yatiri von Taipikala das Überleben trotz großer Schwierigkeiten. Das Erdbeben hatte das Gesicht der Stadt ein für allemal verändert. Mit der Zeit vermischten sich ihre Bewohner mit der Bevölkerung der Umgebung, und souveräne Kleinstaaten entstanden (Canchi, Cana, Lupaca, Pacaje, Caranga, Quillaca ...).
»Ich hab’s!« rief Proxi plötzlich aus. »Hört mal, was ich in einer Zeitschrift aus Bolivien gefunden habe: Die Ureinwohner nannten sie Tiahuanaco. Sie erzählten, daß hundert Jahre zuvor der Inca Pachakutej die Ruinen betrachtet und zu einem ankommenden Boten gesagt habe: Tiai Huanaku, was soviel heißt wie >Setz dich, Guanako<. Dieses Guanako bedeutet gleichzeitig >wildes Lama< und >Dummkopf<. Jedenfalls entstand so der Name der Stadt. Wahrscheinlich wollte man vor den spanischen Eroberern geheimhalten, daß die in der Vergangenheit verlorene Stadt Taipikala hieß, also >Mittelstein<. Und man wollte erst recht nicht verraten, daß dort, am Mittelstein des Universums, der Gott Viracocha die Schöpfung begonnen hatte.« 2
»Ich glaube, diesen Blödsinn mit dem >Setz dich, Guanako< hab ich schon bei Garcilaso de la Vega gelesen«, bemerkte Jabba verächtlich.
»Aber damit haben wir jetzt die Bestätigung«, unterstützte ich Proxi, »daß Taipikala der ursprüngliche Name Tiahuanacos ist, auch wenn uns das vorher schon ziemlich klar war.«
»Eine Kleinigkeit fehlt noch«, verkündete meine Söldnerin und wandte sich wieder ihrem Bildschirm zu. »Der Beweis, daß Taipikala-Tiahuanaco einen Hafen am Titicacasee hatte.«
»Den zu finden wird schwierig werden«, bemerkte ich. »Vor allem, weil der See ja auch den Namen gewechselt hat.«
»Schwieriger als das, was wir schon herausgefunden haben?« Sie lächelte ironisch, und ihre wunderschönen dunklen Augen blitzten gescheit.
Ich konnte verstehen, was Jabba jenseits der seltsamen Unregelmäßigkeit ihrer Gestalt an ihr gefunden hatte. »Nein, das nicht«, gab ich zu.
»Dann laßt mich mal ein Weilchen in Ruhe arbeiten.«
»Aber du verpaßt die Story der Yatiri!« Jabba griff wieder zur verwaisten Kekstüte.
»Die erzählt ihr mir später.«
Die Gruppe von Yatiri, die nach dem Erdbeben in Taipikala geblieben war, mußte die Stadt, die nur noch vage an ihre einstige Größe erinnerte, wieder mit Leben füllen. Die Yatiri kämpften um die Bewahrung ihres alten Wissens und paßten sich an ein Leben in den Ruinen an. Sie bauten einige der Tempel und Wohnhäuser wieder auf, konnten aber die riesigen Steine nicht mehr so problemlos bewegen wie ihre Vorfahren, die Giganten. Taipikala sollte nie mehr in der Sonne strahlen wie zuvor, auch wenn die Gold- und Silberplatten an den Türen und Mauern der Stadt und die Edelsteine an ihren Stelen, Reliefs und Skulpturen überdauert hatten. Die Böden und Terrassen, die in der Glanzzeit rot und grün geleuchtet hatten, waren verblaßt, und die Anlage war nahezu verlassen. Die Yatiri flüchteten sich in ihr Studium des Sternenhimmels und pflegten weiter ihre Wortheilkunst. Da sie in die Zukunft blicken konnten, erfuhren sie früher als andere, daß ein großes Heer von Eindringlingen vor der Tür stand und ihre Welt dem Untergang geweiht war. Sie begannen Vorbereitungen zu treffen.
»Mann, wenn das alles stimmt . !« murmelte Jabba neben mir.
»Was dann?«
»Stell dir mal vor, wie viele Geschichtsbücher umgeschrieben werden müßten!« Er lachte so laut auf, daß ich um den Schlaf meiner Großmutter fürchtete.
»Mich würde es eher beunruhigen, die Giganten in die Lehrpläne aufnehmen zu müssen.«
»Na gut, du hast recht. Ist eh alles erfunden. Gefällt dir das besser?«
Ich sagte nichts, mußte aber lächeln. Im Grunde hatte
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