Der verlorne Sohn
nicht.«
»Was? Auch das hat Ihnen Seidelmann nicht gesagt?«
»Nein.«
»Dann haben Sie im höchsten Grade unverantwortlich gegen Ihr Kind gehandelt. Bedenken Sie, daß ein Kartenschläger, ein Seiltänzer sich auch Künstler nennt. Wie nun, wenn Ihr schöner Knabe einem solchen Menschen in die Hände gefallen wäre! Solche Menschen pflegen ihre Ziehkinder schlimmer zu behandeln als das Vieh.«
»Das wird Herr Seidelmann doch nicht gethan haben!«
»Kennen Sie diesen Herrn so wenig?«
»Er war so gottesfürchtig, so fromm!«
»Ach so! Gute Nacht!«
Er eilte fort. Es war ihm, als ob er einen Faden gefunden habe, den er verfolgen müsse. Er begab sich nach dem Gerichtsgebäude, und zwar da zu dem Wachtmeister Uhlig.
»Ist Seidelmann von Rollenburg gebracht worden?« fragte er diesen.
»Ja, heute.«
»In welchem Zustande?«
»Ganz apathisch.«
»Hört er?«
»Wie es scheint nicht.«
»Wie steht es mit dem Gesicht?«
»Er stiert nur so vor sich hin.«
»Das Gefühl?«
»Wenn man ihn angreift, merkt er es.«
»Spricht er?«
»Kein Wort.«
»Essen und trinken?«
»Er muß gefüttert werden wie ein Säugling.«
»Hm! Führen Sie mich einmal zu ihm. Er hat doch eine Zelle für sich?«
»Nein. Er liegt auf der Krankenstation.«
»Wer hat das befohlen?«
»Der Gerichtsarzt.«
»Er wird sich doch nicht etwa von diesem schlauen Menschen täuschen lassen?«
»Ich habe ihn auch gewarnt.«
»Dieser Arzt ist überhaupt kein großes Lumen. Das haben wir gesehen, als damals der unschuldige Robert Bertram internirt war. Bitte, führen Sie mich einmal zu diesem frommen Patienten.«
Sie gingen durch mehrere Gänge, bis sie in ein wohlverwahrtes Zimmer gelangten, in welchem mehrere Betten standen. Die Fenster waren stark vergittert und die Thüren mit Riegeln und festen Schlössern versehen. Es befand sich nur ein einziger Patient hier und das war Seidelmann. Der Wärter saß an seinem Bette.
»Hat sich etwas geändert?« fragte der Wachtmeister.
»Nein.«
Anton trat an das Bett. Er erkannte den frommen Schuster sofort wieder, obgleich derselbe bleich und abgemagert aussah. Der Hieb, welchen Petermann ihm mit der Weinflasche versetzt hatte, war verhängnißvoll gewesen. Er hatte lange Zeit mit dem Tode gerungen und noch jetzt lautete das ärztliche Gutachten dahin, daß er die Fähigkeit, zu denken, noch nicht wieder erlangt habe.
Sein blödes, ausdrucksloses Auge stierte gerade aus. Er schien die Anwesenden gar nicht zu bemerken.
»Herr Seidelmann!« sagte Anton.
Der Gerufene gab kein Lebenszeichen von sich. Anton hielt ihm den Mund ganz nahe an das Ohr und rief laut: »Hören Sie mich?«
Keine Antwort.
Da faßte er ihn bei der Hand und preßte ihm die Finger mit aller Gewalt zusammen. Das bleiche Gesicht färbte sich roth, weiter war nichts zu bemerken.
»Der Kerl ist schon dreiviertel todt«, sagte er. »An dem ist jede Arznei verloren. Kommen Sie!«
Der Wachtmeister folgte ihm und sagte draußen:
»Man hätte ihn in Rollenburg lassen können.«
»Warum?«
»Es ist gleich, ob er hier stirbt oder dort.«
»Meinen Sie? Lassen Sie sich nicht täuschen, Herr Wachtmeister. Seien Sie vorsichtig!«
»Sie sagten doch selbst, daß er dreiviertel todt sei!«
»In seiner Gegenwart, um ihn sicher zu machen.«
»Ah! Sie denken, er hat es verstanden?«
»Sehr gut.«
»Sie meinen, daß er simulirt, daß er sich verstellt?«
»Ganz gewiß. Ich werde es Ihnen morgen oder bald beweisen. Als ich ihm die Hand zusammenpreßte, mußte er sich alle Mühe geben, um nicht aufzuschreien. Er wurde ganz roth im Gesicht. Das ist genug für mich.«
»Hatten Sie etwas mit ihm vor?«
»Ja, doch es ist vergeblich. In welcher Zelle sitzt sein Dienstmädchen, die doch auch gefänglich eingezogen ist?«
»Frauenabtheilung Nummer Drei.«
»Danke. Ich will Sie nicht belästigen. Die Schließerin kennt mich ja. Guten Abend!«
Er begab sich nach der betreffenden Abtheilung und hörte von der Schließerin, daß die Gefangene seit einiger Zeit mittheilsamer geworden sei. Er ließ sich die Zelle öffnen. Es war dunkel darin. Er nahm ein Licht und trat allein ein.
Die Gefangene hatte bereits auf dem Strohsacke gelegen, welcher bei Beginn der Dunkelheit in die Zelle gegeben wurde. Sie erhob sich.
»Kennen Sie mich?« fragte er.
»Nein.«
»Es ist auch unnöthig, denn ich komme nur in einer privaten Angelegenheit, um bei Ihnen eine Erkundigung einzuziehen.«
»Ich sage nichts.«
»Sie mißverstehen meine Absicht. Meine
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