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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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gleich wußte, was sie antworten sollte.
    »Hier? Ja, wo ist denn das? Bei wem denn?«
    Zander, welcher hinter der Patientin stand, zeigte auf sich, und darum antwortete sie:
    »Beim Doctor Zander.«
    »Doctor Zander? Den kenne ich doch gar nicht! Warum bin ich bei dem?«
    »Weil Sie krank waren.«
    »Krank? Ich?«
    Sie sann nach. Sie legte die Hand an die Stirn; sie schüttelte den Kopf; sie konnte sich nicht besinnen. Zander bewegte die Lippen so, daß Marie ihm das Wort Fieber vom Munde lesen konnte. Darum sagte sie:»Ja, Sie hatten das Nervenfieber. Sie sind erst heute wieder gesund geworden.«
    »Das Nervenfieber? Hätte ich gehabt?«
    »Ja.«
    »War es gefährlich?«
    »Sehr. Sie haben phantasirt.«
    »Ach ja, jawohl! Jetzt begreife ich es! Das also war das Nervenfieber?«
    Sie nickte mit dem Kopfe. Ihre Züge nahmen einen immer mehr geistigen Ausdruck an.
    »Jetzt kann ich mich besinnen,« sagte sie. »Ich habe wirklich phantasirt! Habe ich nicht gemeint, daß ich blind bin?«
    »Ja.«
    »Daß – daß Dein Vater todt ist?«
    »Ja.«
    »Daß – o mein Gott, das war schrecklich! – Daß Wilhelm gefangen sein soll?«
    »Ja, das haben Sie phantasirt.«
    »Das – –? Phantasirt – –? O nein, das war ja wirklich! Seidelmann kam und sagte es mir!«
    Sie stieß diese Worte voller Angst und fast kreischend aus. Die Gefahr war wieder nahe.
    »Ja, Seidelmann sagte es,« fuhr sie fort. »Mein Sohn hat gestohlen! Er ist arretirt!«
    Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Auf das eifrige und angstvolle Winken des Arztes antwortete Marie: »Glauben Sie das nicht, Frau Fels. Glauben Sie es nicht. Sie haben das ja nur im Fieber geträumt!«
    »Wirklich? Wirklich?«
    »Ja.«
    »Er ist nicht gefangen?«
    »Nein.«
    »Und hat nicht gestohlen?«
    »Nein.«
    »Wenn ich das glauben könnte! Wenn es wahr wäre! Aber es war so deutlich, es kann kein Fieber gewesen sein. Wo ist Wilhelm?«
    Marie zögerte, da sie nicht wußte, was sie sagen sollte. Darum rief die Kranke schnell:
    »Siehst Du, daß es nicht wahr ist, was Du sagst! Du giebst keine Antwort! Wo ist er? Im Gefängnisse!«
    Jetzt sah Zander seine Zeit gekommen. Er trat schnell einige Schritte in das andere Zimmer zurück und hustete so laut, daß sie es hören mußte.
    »Ist noch Jemand hier?« fragte sie, den Kopf in lauschende Stellung zur Seite legend.
    »Es ist der Herr Doctor Zander,« antwortete Marie.
    »Bei dem ich mich befinde?«
    »Ja.«
    »Ich muß mit ihm reden. Gleich, gleich!«
    Sie stand vom Stuhle auf und drehte sich um. Er kam langsam auf sie zu und sagte in mildem Tone:
    »Regen Sie sich nicht auf, Frau Fels. Sie müssen sich noch schonen. Sie sind noch zu schwach.«
    »Gott! So war ich wirklich krank?«
    »Gewiß. Sehr krank.«
    »Hatte ich das Fieber?«
    »Ja. Sie haben sehr viel dummes Zeug gesprochen.«
    »Und Wilhelm ist nicht gefangen?«
    »Gott bewahre!«
    »Beweisen Sie es; beweisen Sie es!«
    »Schön! Sie sollen ihn sehen und mit ihm sprechen, wenn ich sicher sein kann, daß Sie sich nicht aufregen.«
    »Ich werde ganz ruhig sein. Was soll mich aufregen, wenn ich meinen Sohn sehe?«
    »Gut, setzen Sie sich nieder. So, hierher! Und nun warten Sie. Schließen Sie die Augen!«
    Sie gehorchte wie ein Kind. Zander winkte dem Sohne. Dieser kam hinter dem Bücherschrank hervor. Sein Gesicht war naß vor Thränen. Er kniete vor ihr nieder.
    »Mutter, liebe Mutter!«
    Da schlug sie die Augen auf. Sie sah den Ersehnten vor sich. Ihr Gesicht nahm einen Ausdruck unendlicher Seligkeit an. Sie legte ihm beide Hände auf das Haupt und sagte mit zitternder Stimme:»Mein Kind, mein liebes, liebes Kind! Da bist Du ja, da bist Du? Gott segne Dich viele tausend, tausend Male!«
    Sie sah seine Thränen, legte sein Gesicht in ihren Schooß nieder und fuhr fort:
    »Ja, ich muß lange krank gewesen sein. Nicht?«
    »Sehr lange.«
    »Wie lange denn?«
    »Wohl ein halbes Jahr.«
    »Das glaube ich. So kommt es mir vor, so und so viel länger. Warum aber bin ich hier und nicht zu Hause?«
    »Hier hast Du bessere Pflege.«
    »Aber wir sind arm, Wilhelm!«
    »Herr Doctor Zander thut es umsonst.«
    »Der liebe, gute Herr! Hast Du mich oft besucht?«
    »Sehr oft.«
    »Und ich weiß nichts davon. Ich habe Dich nicht erkannt. Ich habe nur immer phantasirt. Weißt Du, Herr Seidelmann ist mir stets erschienen. Ich fürchtete mich so wegen der Miethe. Er drohte mir.«
    »Sie ist bezahlt.«
    »Gott sei Dank! Da kann ich ruhig sein. Wie lange muß ich noch hier bleiben?«
    »So

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