Der Vermesser (German Edition)
mit Bedacht gesprochen, und die Stimme klang freundlich. William rieb sich die Augen. Er kannte seine Rechte. Man musste ihm einen Anwalt stellen, jedoch nicht unbedingt einen fähigen Anwalt. In den langen, leeren Stunden hatte er sich an die Hoffnung geklammert, dass der Mann zumindest einen Funken Anstand besaß und kein Trunkenbold war, der während des Prozesses nicht einmal mehr aufrecht stehen konnte. Die Augen dieses Mannes waren rot unterlaufen wie die eines Säufers. Aber er hatte seine Hand durch die Klappe gestreckt. Er hatte Williams Hand schütteln und ihn berühren wollen. Er hatte mit vorsichtiger Höflichkeit, ja Respekt zu ihm gesprochen wie schon seit Wochen niemand mehr. Er hatte wie ein Gentleman gesprochen. William spürte Tränen in den Augen und unter seinem Zwerchfell ein seltsames Zucken. Ein Aufflackern der Hoffnung.
William rückte so weit an die Tür heran, wie es die Kette erlaubte, und kauerte sich auf den Boden. Die Augen des Anwalts waren kaum einen halben Meter weit entfernt. Am liebsten hätte William die Hand ausgestreckt und das Gesicht des Mannes berührt, um für einen Augenblick die Wärme eines menschlichen Körpers zu spüren, aber er hielt die Hände unten. Nur nicht die Beherrschung verlieren.
Erledigt.
William befeuchtete die Lippen mit der Zunge. Er wusste nicht, wie seine Stimme klang. Seit Tagen hatte er nicht mehr gesprochen.
»Ich … mein Eimer, Mr. Rose.« William schluckte. »Ich hätte gern, dass er geleert wird.«
»Natürlich.« Rose nickte. »Natürlich. Ich versuche das zu veranlassen.«
Wieder eine lange Pause. Rose wartete.
»Ich bin nicht verrückt, Mr. Rose«, flüsterte William schließlich. »Und ich habe Alfred England nicht getötet.«
Die Augen des Anwalts traten aus den Höhlen. »Ja, das ist gut«, stammelte er.
»Ich habe ihn nicht getötet«, wiederholte William, und die unvergossenen Tränen drückten gegen seine Wangenknochen. »Sie glauben mir doch, oder?«
Rose blinzelte beklommen, als sich der Häftling ihm entgegenbeugte, so weit seine Fesseln es zuließen. Aus der Nähe waren seine Augen nicht von dem glanzlosen Braun, wie Rose zuerst gedacht hatte, sondern mit grünen und gelben Sprenkeln durchsetzt. Er hatte als Vermesser gearbeitet, hatte man ihm gesagt, ein Mann mit einer Fachausbildung, bevor er den Verstand verloren hatte. Er hatte eine Familie.
»Nun …«, sagte er und stockte. Hinter seinem Rücken verschränkte er die puterroten Hände ineinander, deren Knöchel wie Backenzähne hervortraten. »Hören Sie, Mr. May. Es ist meine Aufgabe, Sie zu verteidigen. Ein Freispruch wäre natürlich aus meiner wie auch aus Ihrer Sicht das beste Ergebnis. Aber ich habe noch nie … die Beweise gegen Sie sind schwerwiegend. Ausgesprochen schwerwiegend, soweit ich gesehen habe. Trotzdem werden wir es versuchen, seien Sie gewiss. Wir werden es versuchen.«
William starrte in die rot unterlaufenen Augen hinter der Tür und biss sich auf die Lippen. »Sie sind meine einzige Hoffnung, Mr. Rose. Man will mich hängen.«
Rose zwang sich, dem Blick des Häftlings standzuhalten. War es Intelligenz, was diese Löwenaugen erleuchtete und golden schimmern ließ, oder war es der Wahnsinn? Wie konnte man das wissen? »Ich werde tun, was in meiner Macht steht, Mr. May«, flüsterte er. »Aber dazu brauche ich Ihre volle Unterstützung. Sie … sagen wir, es sieht nicht besonders gut aus für Sie. Verstehen Sie? Deshalb muss ich alles wissen. Alles. Von Anfang an.«
Und so begann William von Anfang an zu erzählen. Zuerst kamen die Sätze langsam und mit langen Pausen, als müsste er sich jedes Wort einzeln wie einen Felsblock von der Brust wälzen. Er rieb sich die Handgelenke an den eisernen Fesseln, als wollte er sie abschütteln.
Rose schmerzten die Knie. Er machte sich Notizen und malte dabei jeden Buchstaben in kunstvollen Schnörkeln, nicht nur, um die ausgedehnten Schweigepausen zu füllen, sondern auch, um sich von dem entsetzlichen Kettengerassel und dem Stöhnen aus den anderen Zellen abzulenken. Das ging mehrere Stunden so, und je tiefer die Sonne sank, umso mehr sank sein Mut. »Ich werde bald gehen müssen, Mr. May.«
William starrte Rose durch den Schlitz an. Er schüttelte den Kopf, zuerst langsam, dann immer heftiger. Er begann zu zittern, bis sein ganzer Körper bebte. Sein verwirrter Blick schärfte sich in heller Verzweiflung, und auf seinen blutleeren Wangen zeichneten sich zwei rötliche Flecken ab. »Nein, nein,
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