Der Vermesser (German Edition)
Dr. Pettit und Mr. Vickery – enthielt. Es seien noch zusätzliche belastende Dokumente vorhanden, räumten sie ein, doch habe man sie leider verlegt. Sobald sie wieder aufgefunden seien, werde Mr. Rose Abschriften für seine Unterlagen erhalten. Kaum eine halbe Stunde nach seinem Eintreffen stand der Anwalt wieder auf der Straße.
Obwohl er gute Lust hatte, den Besuch auf den folgenden Tag zu verschieben, machte er sich vom Polizeirevier aus direkt auf den Weg nach Woolwich. Er war noch nie zuvor auf dem dort vertäuten Gefängnisschiff gewesen, dessen Lärm und Dreck ihn entsetzten und dessen Gestank ihm Übelkeit verursachte. Als er, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, durch das Schiffsinnere schlich, schabte sein Adamsapfel wie eine Grille an dem steifen Hemdkragen, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als die Augen zu schließen und auf wundersame Weise in die friedliche Ruhe seiner schäbigen Unterkunft im Temple-Bezirk zurückbefördert zu werden. Schließlich erreichten sie Williams Zelle, doch der Wärter schloss die Tür nicht auf. Rose in die Zelle des Häftlings treten zu lassen hätte den Sicherheitsvorschriften widersprochen. Deshalb entriegelte der Wärter nur die Eisenklappe in der Tür, durch die er gewöhnlich dem Gefangenen seine tägliche Ration Brot und Wasser reichte, und forderte den Anwalt auf, in die Hocke zu gehen, damit er durch den Schlitz sprechen konnte. Außerdem reichte er Rose eine eiserne Glocke, um ihm Hilfe herbeizurufen, wenn ihm der Häftling Schwierigkeiten machte oder er zu gehen wünschte. Rose nickte und beugte sich hinunter, als der Wärter außer Sichtweite war. Der Häftling in der Zelle sah lediglich die Augen des Besuchers, Rose hingegen konnte seinen Mandanten vollständig in Augenschein nehmen. Doch der Anblick, der sich ihm bot, hob nicht gerade seine Stimmung.
William lag gefesselt gegen die Wand gepresst. Er trug noch immer das baumwollene Nachthemd aus der Irrenanstalt, das inzwischen verdreckt und zerrissen war, und sein Haar stand ihm in Büscheln vom Kopf ab. Die Augen hielt er geschlossen. Rose musste an den alten Löwen im Londoner Zoo mit seinem von Motten zerfressenen Fell denken, über den die Besucher murrten, weil er sich nie vom Fleck bewegte oder brüllte oder tat, was Löwen in Bilderbüchern zu tun pflegten, sondern sie mit seinen bösartigen Augen reglos anstarrte und ihnen allen den Tod zu wünschen schien. Außerdem stank der Gefangene auch wie ein alter Löwe. Rose zog ein Taschentuch aus seiner Tasche und sog den tröstlichen Duft von Bonbons ein.
»Mr. May?«
William schlug die Augen auf und blickte sogleich wachsam hin und her. Das waren keine Augen, die einem den Tod wünschten, dachte Rose, obwohl er wusste, dass der Häftling als gewalttätig galt. Eher lag darin die ziemlich aussichtslose Leere des hellbraunen Umschlags.
»Hier bin ich, an der Klappe. Man hat mich leider nicht hineingelassen, aber ich bin hier, um Sie zu vertreten. Vor Gericht. Sydney Rose.« Der Anwalt räusperte sich und schluckte nervös. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Unbeholfen und unsicher, welches die angemessene Umgangsform in einer so außergewöhnlichen Situation war, streckte Rose die Hand, so weit er konnte, durch den Schlitz. Das kalte Metall drückte gegen sein knochiges Handgelenk. Rose wartete mit nervös zuckenden Fingern, aber vergeblich. Auf der anderen Seite der Tür schüttelte niemand seine Hand zum Gruß. Vielleicht konnte May nicht so weit greifen. Und außerdem, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf, war der Mann ja ein Häftling, ein Irrer. Das Bewusstsein seiner Unvorsichtigkeit durchzuckte ihn wie ein stechender Schmerz. Ein Kerl wie der da würde ihm, eh man sich’s versah, einen Finger abbeißen. Hastig zog er die Hand zurück, doch im letzten Moment streifte ihn die geisterhafte Berührung von Mays Fingern.
»Mr. Rose«, sagte William sehr leise.
Zögernd rieb sich Rose die aufgekratzten Stellen am Handgelenk. Die Stimme des Wahnsinnigen war mangels Übung ungelenk, aber beherrscht, und verriet Bildung. Weniger die Stimme eines Irren als die eines Büroangestellten. Rose spähte erneut in die Zelle, und seine rosa Augen lugten wie durch den eisernen Schlitz eines mittelalterlichen Helms hervor. Er gab einen sehr ungewöhnlichen Ritter ab.
»Mr. May«, sagte er, »uns bleiben nur wenige Tage zur Vorbereitung auf den Prozess. Deshalb sollten Sie mir alles ausführlich erzählen.«
Die Worte waren
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