Der Vermesser (German Edition)
Weil er wusste, dass es zu spät war. Er wusste, dass England bereits tot war.«
Rose presste die Lippen zusammen und unterdrückte einen Seufzer. Seine Beine kribbelten, und seine Schultern waren verspannt. Er veränderte seine Position und schielte verstohlen auf die Uhr, die er aus der Westentasche gezogen hatte. Nun war er schon seit fast drei Stunden auf dem Gefängnisschiff, fast die ganze Zeit vor der Klappe kniend, und noch immer hatte er nichts in Händen. Nichts, was ihm der Gefangene erzählt hatte, würde einem Kreuzverhör standhalten, falls man ihn überhaupt in den Zeugenstand rufen würde. Nein, es würde gar nicht erst dazu kommen. Denn als ausgewiesener Geisteskranker war seine Aussage keinen Pfifferling wert. Rose konnte nur hoffen, dass er etwas oder jemanden auftat, wodurch Mays Geschichte bestätigt wurde. Aber was? Wen? Hawke würde kaum freiwillig seine Hilfe anbieten. Und die Baubehörde würde sich in Schweigen hüllen, daran bestand kein Zweifel. Sie befand sich bereits jetzt in einer unangenehmen Lage und wollte gewiss nicht noch einen weiteren ihrer Mitarbeiter in diese hässliche Affäre verstrickt sehen.
Außerdem – wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass May die Wahrheit sagte? Oder dass seine Vermutungen tatsächlich der Realität entsprachen? Rose sah sich Phantomen nachjagen, um Bestätigung für eine Geschichte zu finden, die nur das Produkt von Fieberfantasien war. Schließlich galt der Häftling als anfällig für wilde Albträume und Gedächtnisstörungen. Er sah Dinge, die gar nicht existierten. Zwar behauptete er, nicht verrückt zu sein, aber er hatte mit seiner eigenen Unterschrift der Einweisung in eine Irrenanstalt zugestimmt. Niemand zweifelte daran, dass May schuldig war. Warum sollte er, Rose, daran zweifeln? Er spannte die schmerzenden Füße an, fühlte, wie das Leben in seine Waden zurückkehrte, und klappte das Notizbuch zu.
»Es ist spät«, sagte Rose, und seine rot unterlaufenen Augen schweiften ab. »Ich muss gehen.«
»Aber Sie kommen doch wieder, nicht wahr? Morgen, wenn Sie mit Hawke gesprochen haben und mit Lovick?«
»Vielleicht«, erwiderte Rose ausweichend.
Einen Moment lang stand William völlig reglos da. Dann sank er auf die Knie. Die Fußeisen zogen an seinen Beinen, aber er schien es nicht zu merken. Unverwandt hielt er den Blick auf den Türschlitz gerichtet, und in seinem angespannten Gesicht traten die Knochen markant hervor. Er faltete die hohlen Hände. Seine Löwenaugen schimmerten golden. Mit seinem verdreckten Nachthemd, dem in Büscheln abstehenden Haar und dem zerzausten Bart erschien er Rose wie ein Asket, ein Prophet aus dem Alten Testament, der im Namen eines launischen und rachedurstigen Gottes unerträgliches Leid erdulden musste. Nicht mehr wie ein Löwe, sondern wie Daniel, der all seinen Mut und Glauben zusammennahm, um sich in die Löwengrube zu wagen.
»Ich habe ihn nicht umgebracht, Mr. Rose.«
Rose blinzelte traurig und zwang sich, dem Blick des Häftlings standzuhalten. »Wir werden tun, was in unserer Macht steht«, sagte er erneut. »Mehr kann ich nicht versprechen. Gute Nacht, Mr. May.«
Energisch schellte er mit der Glocke, um einen Wärter zu rufen. William beobachtete, wie die Augen hinter der Tür verschwanden. Durch den schmalen Schlitz sah er nur noch die roten Hände des Anwalts, die ungeschickt über die Hosenbeine und den Saum seiner Jacke strichen. Der Stoff war schmutzig, bedeckt mit Staub und Stroh.
»Noch ein Letztes«, sagte William beinahe flüsternd durch den Schlitz. »Bitte übermitteln Sie meiner Frau eine Nachricht. Sagen Sie ihr, es täte mir leid wegen all der Sorgen, die ich ihr gemacht habe. Sagen Sie ihr, dass ich sie liebe und sie immer lieben werde.«
Die Hände hielten inne. Erst nach einer Weile suchten sie einander und verschränkten sich fest. »Ja, natürlich«, murmelte Rose. »Natürlich.«
»Sagen Sie ihr, dass ich Pläne für ihren Garten mache. Er wird wunderschön werden. Sagen Sie ihr …«
Williams Worte wurden von schweren Tritten übertönt. Rose sprach murmelnd mit dem Wärter, bevor er dem Gefangenen erneut eine gute Nacht wünschte. Flehentlich bat William den Anwalt, sich zu dem Schlitz hinunterzubeugen. Zögernd kam Rose dem Wunsch nach und vernahm Williams geflüsterte Worte. Verwirrt und unsicher, ob er richtig verstanden habe, bat Rose ihn, es noch einmal zu wiederholen, aber William bewegte nur lautlos die Lippen. Die Erschöpfung hatte ihm alle Kraft
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