Der Vermesser (German Edition)
geraubt. Er schloss die Augen und ließ sich gegen die eiserne Zellentür fallen, während Rose hinausbegleitet wurde.
Wir werden tun, was in unserer Macht steht. Wir werden tun, was in unserer Macht steht.
William hatte geglaubt, ein wenig Trost aus diesen Worten zu schöpfen, aber sie wiederholten sich nur endlos in seinem Schädel, bis ihre Ecken und Kanten abgeschliffen und ihr Sinn verloren war. Als er schließlich zusammengerollt wie ein Embryo einschlief, träumte er von rot unterlaufenen, hervortretenden Augen, eingerahmt von rostigem Metall, und als er in den dunklen, kalten Stunden vor der Morgendämmerung erwachte, erfüllte ihn eine schreckliche Gewissheit, dass der Anwalt, sosehr er sich bemüht hatte, nicht ein Wort von Williams Geschichte glaubte.
XXVI
D ie Staatsanwaltschaft übermittelte Roses Anwaltskanzlei die Nachricht am folgenden Morgen. Tags zuvor hatten die Ermittlungsbeamten Mays Arbeitsplatz in der Greek Street durchsucht und unter einer losen Fußbodendiele unter seinem Schreibtisch ein Bajonett entdeckt, wie es die einfachen Soldaten im Krimkrieg benutzt hatten. Die Ermittler gingen davon aus, dass England mit dieser Waffe getötet worden war. An der Schneide klebte getrocknetes Blut, und auf der Unterseite klebten zwei schwarze Barthaare, die genauso lang und von derselben Farbe waren wie die des Toten. Mit dieser Entdeckung war für die Anklage der Fall abgeschlossen. In Anbetracht des abscheulichen Verbrechens und der Gefahren, die damit verbunden waren, einen Geistesgestörten länger als notwendig auf einem Gefängnisschiff festzuhalten, drängte die Staatsanwaltschaft auf eine rasche Verurteilung. Daher hatte der Richter die Genehmigung erteilt, die Verhandlung auf den ersten Tag der neuen Sitzungsperiode zu legen. Mays Prozess würde also am Montag beginnen, in sechs Tagen. Bis dahin hatte Rose Zeit, die Verteidigung des Gefangenen vorzubereiten.
Selbstverständlich würde er dagegen Einspruch erheben. Sie konnten nicht derart willkürlich die Verhandlung vorverlegen. Doch das war es nicht, was Rose beunruhigte, als er den Wasserkessel für den Tee aufsetzte. Er dachte vielmehr an May, der gefesselt in seiner dunklen Zelle kauerte. Dann hatte er es also doch getan. May hatte Alfred England ermordet. Rose faltete den Brief der Staatsanwaltschaft zusammen und legte ihn zu seinen Unterlagen, überrascht, wie groß seine Enttäuschung war. Während der Kessel auf dem Herd zu rasseln begann, starrte Rose in die Flammen, die Ellbogen auf den Knien, die roten Hände gefaltet. Die Enttäuschung ist nur natürlich, sagte er sich, um die Fassung wiederzugewinnen. Wer wollte schon seinen ersten Mandanten hängen sehen? Später jedoch, als er seinen Hut nahm und durch den Temple-Bezirk den Fluss entlang langsam Richtung Lambeth Bridge ging, wusste er, dass mehr dahintersteckte. Etwas an May hatte Rose angezogen, obwohl er sich dagegen sträubte; doch was es war, konnte er nicht genau sagen. Ganz bestimmt nicht Mays Geschichte, obwohl es schien, als sei der Häftling ehrlich davon überzeugt. Trotz seiner schmutzigen Kleider, des verfilzten Haars und der Zelle, die kaum größer war als eine Hundehütte, hatte er etwas Aufrichtiges, etwas Ehrbares an sich. Als wäre nur sein Körper schmutzig und abstoßend, seine Seele jedoch vollkommen rein geblieben. Das zeigte nur, wie sehr man sich täuschen konnte. Er hatte sich von dem vornehmen Gehabe in die Irre führen lassen, denn Häftlinge waren selten so höflich. Vielleicht hatte er auch die sinnlose Einfalt des Geisteskranken fälschlich für Rechtschaffenheit gehalten. Rose seufzte. Wenn er mehr als ein mittelmäßiger Rechtsanwalt werden wollte, musste er die Märchengeschichten seiner Mandanten besser durchschauen.
Auf der Brücke blieb er stehen und blickte hinunter in das braune Wasser. Auf der Themse tummelten sich Kohlenkutter und farbenfroh bemalte, mit Stroh beladene Kähne. Sie wirkten majestätisch wie junge Schwäne neben den mächtigen Dampfschiffen, die trotz ihrer Größe miteinander zu wetteifern schienen, wer schneller war. Die Schiffsglocken läuteten, die Schaufelräder drehten sich unermüdlich, und aus den Schornsteinen stieg Rauch auf, als atmeten die Maschinen schwer. Über das Getöse hinweg trug der starke Westwind die Rufe der Arbeiter und das metallische Hämmern von der im Bau befindlichen neuen Westminsterbrücke herüber. Das Wasser war unruhig, aufgewühlt vom Wind und von den Schaufelrädern der Dampfer. Dicken
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