Der Vermesser (German Edition)
bitte. Ich …«
May kämpfte sich hoch und begann auf und ab zu gehen, soweit es die enge Zelle erlaubte, zwei kurze Schritte in die eine Richtung, dann zwei zurück, wieder zwei vorwärts und zwei zurück. Seine Fußeisen klirrten, die Ketten rasselten. Immer noch schüttelte er den Kopf, den er mit beiden Händen umklammerte, als wollte er ihm so die Wahrheit entlocken. Vielleicht geschah das tatsächlich. Denn mit einem Mal und ohne Vorwarnung sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus, schneller und immer schneller, bis sie wie ein Wasserfall von seinen Lippen flossen und Rose sich gegen diesen Ansturm kaum mehr zu behaupten wusste. Draußen senkte sich der abendliche Nebel düster herab, bis das verrostete Schiff sich nur mehr als eine große dunkle Silhouette vor dem pechschwarzen Himmel abzeichnete. Aber Rose blieb, wo er war, das Gesicht an die Metallklappe gepresst, während seine Hand hektisch über das Notizbuch auf seinem Schoß fuhr.
May schien sich kaum bewusst zu sein, was er sagte. Er hielt den Blick starr auf die abgetretenen Dielen mit den gespenstischen Fußabdrücken der zahllosen Gefangenen längst vergangener Zeiten gerichtet und erzählte und erzählte. Von den Schrecknissen des Krimkriegs, von den Albträumen, die sie ihm bereitet hatten, und von seinen Bewusstseinsstörungen. Er erzählte Rose alles, woran er sich erinnern konnte. Von den Unterredungen mit Hawke, von seiner Weigerung, Schriftstücke zu unterzeichnen, die sein Vorgesetzter ohne legitime Befugnis aufgesetzt hatte, um England einen lukrativen Auftrag zu verschaffen. Von Hawkes Versuch, ihn zu bestechen und einzuschüchtern, von Englands Verzweiflung, von den Drohungen des Ziegeleibesitzers und von seiner, Williams, beharrlichen Weigerung, seine Entscheidung rückgängig zu machen. Er erzählte Rose, dass es zwischen ihnen tatsächlich zu Handgreiflichkeiten gekommen sei, dass er England geschlagen habe, danach aber fortgelaufen sei und, wie so oft, Zuflucht in den Tunneln gesucht habe und dass er durch die Kälte in einen Fieberzustand geraten sei, von dem er sich nur langsam erholt habe. Aber trotz seines Fiebers wusste er und hatte er immer gewusst, dass er in der undurchdringlichen Dunkelheit der Kanäle Zeuge eines Mordes geworden war. Das hatte er immer wieder auch seiner Frau beteuert, die es jedoch als Fieberfantasie abtat. Deshalb war es ihm Wochen später, als er von Englands Tod erfuhr, ein Anliegen gewesen, ihr den Brief zu schreiben und durch sie der Polizei seine Hilfe anzubieten. Er sagte Rose, er sei felsenfest überzeugt, dass Hawke in irgendeiner Weise in Englands Tod verwickelt sei. Hawke habe sich bereit erklärt, England gegen Geld einen Vertrag zu verschaffen, was ihm aber nicht gelungen sei. Englands Firma habe kurz vor dem Bankrott gestanden und daher dringend Geld benötigt. Vielleicht habe England ihn in irgendeiner Weise bedroht, versucht, ihn zu erpressen. Falls Hawke befürchtet habe, entlarvt zu werden …
»Hawke?«, unterbrach ihn Rose. »Der Beamte, der die Finanzaufsicht über das Kanalbauprojekt führt, nicht wahr? Ein ziemlich hoher Posten in der Behörde?«
»Ja! Er steht im Ruf, die Mittel überaus sparsam zu verwalten. Brillant, nicht wahr? Niemand, der Hawke kannte, wäre je auf den Gedanken gekommen, dass er die ganze Zeit Geld in der eigenen Tasche verschwinden ließ. Aber genau das tat er. Er hat es mir selbst gesagt. Er bot mir einen bestimmten Anteil als Gegenleistung, wenn ich dafür sorgen würde, dass England einen umfangreicheren Auftrag erhielte.«
»Gibt es Zeugen dafür?«
»Nein, natürlich nicht. Hawke ist kein Narr.«
Roses Augenlider senkten sich ein wenig. William hörte das Kratzen des Bleistifts auf Papier.
»Es war allgemein bekannt, dass Sie auf schlechtem Fuß mit ihm standen, nicht wahr?«
»Mit Hawke? Nicht mehr als mit jedem anderen. Oder zumindest nicht bis zu der Sache mit England.«
»Aber man wusste, dass Sie einander nicht grün waren? Auf sein Drängen hin wurden Sie von einem Arzt untersucht, stimmt das?«
»Er wollte mich unglaubwürdig machen«, wandte William ein. »Verstehen Sie das nicht?«
Rose schwieg.
»Auf meine Empfehlung hin bekam eine andere Ziegelei den Zuschlag«, fuhr William unbeirrt fort. »Zwei Tage später war England tot. Erst Wochen später wurde sein Leichnam gefunden, aber Hawke wusste Bescheid. Er wusste es schon vorher. Als ich mit dem Vorschlag zu ihm kam, England den Vertrag für Abbey Mills zu geben, lachte er nur.
Weitere Kostenlose Bücher