Der Vermesser (German Edition)
seinem Zellensarg eingeschlossen. Tausende Männer, lebendig begraben und gierig nach dem bisschen Luft schnappend, das ihnen geblieben war. So durfte er nicht denken. Er durfte überhaupt nicht denken. Denn wenn er sich zu denken erlaubte …
Entschlossen tat William einen Schritt vorwärts, so dass seine Hände die Tür berührten. Dann drehte er sich um. Durch den Druck der an der Wand befestigten Ketten pressten sich die Fußeisen schmerzhaft in sein Fleisch. Er wandte sich erneut um und starrte auf den Boden. Unter der kleinen Eisenklappe in der Zellentür war durch das endlose Scharren von Füßen eine flache Mulde in den blanken Dielen entstanden. Bei diesem Anblick krampfte sich William das Herz zusammen. Er schloss die Augen. Ohne das Chloral war sein Kopf klar und schmerzfrei, und er nahm alle Geräusche deutlich wahr. Ganz langsam glitt er an der Wand in die Hocke. Er musste sich seine Kräfte aufsparen. Er würde einen Anwalt bekommen, hatten sie ihm gesagt. Das war sein gutes Recht. Zusammen mit dem Anwalt würde es ihm gelingen, hier herauszukommen. Er war unschuldig. Hawke, der wusste, was mit England geschehen war, hatte dafür gesorgt, dass man ihm den Mord in die Schuhe schob. William war unschuldig. Er war doch unschuldig, oder etwa nicht?
XXV
D er Anwalt, dem man Williams Fall übertragen hatte, war ein nervöser junger Mann namens Sydney Rose. Nach einer langen Ausbildungszeit, unterbrochen von langen Phasen erzwungenen Müßiggangs, wenn sich sein Vater wieder einmal nicht dazu bewegen ließ, die fälligen Gebühren zu entrichten, und Rose darüber nachgrübelte, ob er zu einer juristischen Laufbahn überhaupt berufen war, hatte man ihn schließlich als Anwalt zugelassen. William war sein erster Mandant.
Obwohl Rose einer Familie entstammte, der es über Generationen hinweg gelungen war, ihre dauerhaft prekäre Finanzlage hinter der Fassade betonter Ehrbarkeit zu verbergen, war sein Erscheinungsbild nicht gerade einnehmend. Er war von hagerer Gestalt und hatte das feine, farblose Haar eines Säuglings sowie Beine und Arme von unnatürlicher Länge, die mangels jeglicher Koordination dazu neigten, völlig unabhängig voneinander zu agieren. Auf die unvorhersehbaren Bewegungen seiner Gliedmaßen reagierte Rose mit einer Art überraschter Willfährigkeit. Überhaupt erweckte der junge Anwalt den Eindruck, als befände er sich in einem Dauerzustand der Fassungslosigkeit. Wenn er schluckte, was oft geschah, scheuerte sein Adamsapfel am Kragen. Er hatte hervortretende, rot unterlaufene Augen und so helle Wimpern, dass man sie kaum sah. War er nervös, traten die Augäpfel noch weiter aus ihren Höhlen. Seine bartlosen Wangen hatten die bläulich weiße Blässe entrahmter Milch. Seine Hände hingegen waren rot und grobknochig, die Fingernägel abgekaut und die Knöchel wund gescheuert. Er trug einen sauberen, annehmbar gebügelten Anzug, der jedoch für einen Mann mit besser proportioniertem Körperbau geschneidert war, so dass die Handgelenke aus den Ärmeln hervorragten wie knorrige Fahnenstangen, von denen seine roten Hände linkisch herabhingen, als wäre es ihnen peinlich, öffentlich zur Schau gestellt zu werden. Um ihre Verlegenheit zu verbergen, neigte er dazu, sie beim Sprechen krampfhaft hinter dem Rücken zu verschränken, so dass sie noch röter wurden. Wenn ihnen das zu viel wurde, nahmen sie Zuflucht in seinen Hosentaschen, die der Schneider unerklärlich tief gesetzt hatte. In dieser Stellung wirkte Rose trotz seiner langen Arme gebeugt und verdruckst und nicht gerade Vertrauen erweckend.
Die Kriminalbeamten gaben sich nicht die geringste Mühe, ihre Verachtung zu verhehlen, als Rose mit ihnen über den Mord sprechen wollte. Ihrer Ansicht nach war der Fall klar und das Gerichtsverfahren reine Formsache. Den schlaksigen Anwalt mit den Froschaugen und den puterroten Händen betrachteten sie als die billigste Lösung, die die Krone gefunden hatte, um den Vorschriften eines ordentlichen Strafprozesses Genüge zu tun. Sie gewährten Rose nicht einmal eine halbe Stunde, antworteten einsilbig auf seine Fragen und trommelten nervös auf die Tischplatte. Als Beweismaterial, auf das sie sich vor Gericht zu stützen gedachten, konnten sie ihm lediglich einen dünnen hellbraunen Umschlag zur Einsicht vorlegen, der die Aussagen zweier Mitarbeiter des Amtes für öffentliche Bauvorhaben – Mr. Hawke und Mr. Spratt – sowie zweier weiterer Männer aus der Anstalt von Hounslow –
Weitere Kostenlose Bücher