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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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geworfen. Gemeinsam. Ein paar Monate nachdem er aus dem Krieg zurückgekommen war. Wir hätten etwas dafür bekommen, wenn wir es verkauft hätten, aber er sagte, die Vorstellung, dass es auf dem Grund der Themse vor sich hin rostete, würde ihm helfen, diese schreckliche Zeit hinter sich zu lassen. Es ging ihm besser, verstehen Sie. Es ging ihm fast wieder gut.«
    Wieder dieser dünne Schrei. Der Junge zog hastig die Hand aus dem Korb.
    »Sie hat Hunger, Mama.«
    Polly hob ein Bündel aus dem Korb und fing an, leise zu summen. Wieder ein Schrei. Polly begann ganz sanft ein Wiegenlied zu singen, das Rose nicht kannte. Jemand zog an seinem Hosenbein. Er sah hinunter und blickte in die karamellbraunen Augen des Jungen.
    »Das ist meine kleine Schwester«, sagte das Kind. »Sie heißt Edith. Sie und ich, wir werden bei meinem Onkel Maurice wohnen. In Kent. Das ist auf dem Land.«
    »Tatsächlich?«
    Der Junge nickte.
    »Mama kommt nach, sobald sie kann. Dann sind wir alle drei wieder zusammen. Drei ist eine Glückszahl, sagt Mama.« Er blickte auf das Baby, stolz und ängstlich zugleich. »Deshalb hat das Baby auch drei Namen. Nicht bloß Edith. Edith Elizabeth Violet.«
    Es regnete stark, als Rose die York Street verließ. Die beiden Burschen luden die letzten Kisten auf den wartenden Karren, aber der Bugholzstuhl stand immer noch an seinem Platz, und auf dem abgeschlagenen Schnabel des Waschkrugs hatten sich ein paar Regentropfen gesammelt. Auf dem bestickten Tuch zerlief die Farbe der Seidenstickerei. Rose schlug den Kragen hoch. Den ganzen Weg den Fluss entlang, während ihm der Regen ins Gesicht peitschte, sagte er sich immer und immer wieder, streng und unnachgiebig, dass er sich diesmal nicht abwimmeln lassen würde.
    Der Polizist grummelte vor sich hin, als er die Kiste mit den Unterlagen auf den Tisch wuchtete. Die Schriftstücke, sagte er, dokumentierten nur die alltägliche geschäftliche Korrespondenz, nicht wert, sie aufzubewahren. Die Informationen, die sie enthielten, könnten von den Herren im Amt für öffentliche Bauvorhaben jederzeit bestätigt werden. Dennoch, es seien persönliche Unterlagen, und der Polizist sei nicht befugt, sie herauszugeben. Sie müssten am folgenden Vormittag in die Baubehörde zurückgebracht werden.
    »Ich werde das selbst erledigen«, sagte Rose und griff nach der Kiste. »Nachdem ich sie gelesen habe.«
    »Aber … Sie können doch nicht einfach …«
    »O doch, Sie sehen ja, dass ich es kann. Ich danke Ihnen. Sie haben mir sehr geholfen.«
    Der Polizist klappte den Mund auf und wieder zu, aber er machte keine Anstalten, Rose aufzuhalten. Der Anwalt klemmte sich die Kiste unter den Arm. Sie war sperrig und schwer, und er war nicht gerade kräftig gebaut. Doch als er die Treppe der Polizeiwache hinunterstieg, ihm der Regen von der Nase tropfte und in kalten Rinnsalen über den Rücken lief, war sein Gang ungewohnt leicht.

XXVII
    H äftlinge erhielten kein Chloral, und so waren die ersten zwei Tage entsetzlich. Williams Herz raste, seine Gliedmaßen zuckten und ruckten in den eisernen Fesseln. Die Zunge lag ihm wie ein Wollknäuel in dem ausgetrockneten Mund. Wenn er auch nur für einen Augenblick nicht auf der Hut war, suchten ihn Schmerz und flüchtige Schreckensbilder heim, die von den Fußsohlen heraufkrochen und ihm ihren kalten schwarzen Atem ins Genick bliesen. In seinem Kopf kreischte und hämmerte es. Er wagte nicht zu schlafen. Das Scharren der Ratten im Stroh ließ ihn zusammenzucken. Die meiste Zeit saß er vornübergebeugt da, hockte auf seinem verrosteten Eimer und hielt sich den von Krämpfen gepeinigten Bauch, während ihm kalter Schweiß auf der Stirn die Haare verklebte. Keiner kam, um den Eimer zu leeren. Niemand richtete das Wort an ihn. Seine kargen Mahlzeiten wurden ihm in einem zerbeulten Blechnapf durch den Türverschlag gereicht. Anfangs hielt William es nicht aus und flehte den Wärter an, ihm eine Dosis des Beruhigungsmittels zu geben, aber er erhielt keine Antwort. Die Klappe öffnete sich, sein Essen wurde hereingeschoben, dann schloss sich die Klappe wieder. Sobald William versuchte, etwas zu sagen, wurde sie mit einem lauten Knall zugeschlagen. Dieses Ritual wiederholte sich dreimal am Tag. Das Essen bestand meist aus hartem Brot und einer dünnen, faden Suppe, aber William wartete stets begierig darauf, nicht weil er Hunger hatte, sondern weil die ihm inzwischen vertraute, schmutzige Hand mit dem Napf ein tröstlicher Anblick war. In den

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