Der Vermesser (German Edition)
ersten Tagen blieb dies sein einziger Kontakt mit einem anderen menschlichen Wesen.
Am dritten oder vierten Tag hatte ihn das Klirren der Ketten geweckt, als ein Häftling aus seiner Zelle geführt wurde. Es musste früher Morgen sein. William hatte wohl mehrere Stunden geschlafen. Sein Kopf war klar, und der pochende Kopfschmerz nur noch ein leichter Druck hinter den Augen. Wenn er sich nicht bewegte, konnte er sich fast einbilden, er sei ganz verschwunden. Sein Herzschlag ging ruhig und gleichmäßig. Er hielt sich die Hände vors Gesicht. Sie zitterten nicht mehr. Vorsichtig holte er tief Luft. Der Gestank aus dem Eimer verursachte ihm Übelkeit. Als sein Frühstück kam, rief William dem Wärter zu, er solle den Kotkübel ausleeren. Die Türklappe fiel krachend zu. Eine Stunde später wurde sie erneut geöffnet, und die vertraute derbe Hand, die abgebrochenen Fingernägel schwarz umrandet, entriegelte die Eisenklappe. William hob den Kopf von den Knien.
»Du hast Besuch.«
Polly, durchfuhr es William, und der Gedanke flammte in seiner Brust auf wie ein scharlachrotes Feuerwerk. Wie verzehrte er sich nach dem Klang ihrer süßen Stimme. Doch dann vernahm er die zaghafte Stimme eines jungen Mannes und sah durch den Schlitz eine andere Hand, die sauber war, jedoch rot und rau und knochig. Sydney Rose. Sein ihm von der Krone zur Verfügung gestellter Anwalt.
»Dann wünsch ich mal viel Glück«, hörte er den Wärter murmeln, der leise lachend verschwand. »Können Sie bestimmt gebrauchen.«
An jenem Nachmittag, als der Anwalt zum ersten Mal erschienen war, hatte William geredet, bis er heiser war. Der Anwalt erschien ihm sehr tüchtig. Aber nachdem er gegangen war, fühlte sich William wie ausgepumpt. Hundeelend. Und voller Angst. Er hatte noch nie Angst gehabt. Die Irrenanstalt, das Gefängnis, selbst der Galgen schreckten ihn nicht. Seine Furcht galt allein ihm selbst und dem, wozu er fähig war. Er hatte geglaubt, er sei verrückt. Er hatte gewusst, dass er verrückt war. In ihm hauste ein Dämon, der sich in die dunkelsten Winkel seines Herzens verkrochen, sein Blut vergiftet, ihm Augen und Ohren versiegelt und ihm die Hände geraubt hatte, um in seinem, Williams, Namen Verbrechen unerträglichen Grauens zu verüben. Er hatte die Gewissheit in den Augen anderer gesehen – der Polizeibeamten und Ärzte und auch des Anwalts hinter seiner eisernen Maske. Sie alle starrten ihn an, und Abscheu, moralische Entrüstung und Faszination standen ihnen ins Gesicht geschrieben und ließen ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Keiner von ihnen hegte Zweifel daran, dass er Alfred England ermordet hatte.
Angekettet in seiner Zelle, schrie sein ganzer Körper nach Chloral. William hatte sich verzweifelt bemüht, die schwankenden und schwitzenden Ruinen seiner Gedanken zu glätten, aber sie entglitten ihm und zerbröselten ihm zwischen den Fingern. Die Erinnerungen würden zurückkehren, sagte er sich immer wieder und beschwor sich, daran zu glauben. Wenn er einen Menschen getötet hätte, würde er sich doch daran erinnern. In Inkerman hatte er einen Mann, sogar zwei Männer umgebracht. Die Russen hatten sich im dichten Nebel an sein Zelt herangeschlichen und ihre Bajonette durch die Zeltwand gestoßen. Der Ingenieur neben ihm war mit einer Klinge im Hals aufgewacht. Schlaftrunken war William in der Unterwäsche hinausgetorkelt und hatte einem russischen Soldaten, der am Boden kauerte, um seine Muskete zu laden, das Bajonett zwischen die Schulterblätter gestoßen. Später, viel später hatte er noch einen Mann getötet, aber da hatte das blutige Gemetzel des Kriegs bereits alles bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, so dass das Töten fast schon alltäglich erschien. Beim ersten Mal war es anders gewesen. William erinnerte sich noch genau an jede Einzelheit. An den Ruck in seinen Schultern, als er das Bajonett hob, den dumpfen Schlag, als er es dem Mann durch den grauen Soldatenmantel stieß, den zuckenden Rücken des Mannes, das Gurgeln in seinem Hals, die Kraft, die es kostete, die Klinge wieder herauszuziehen, und das Blut, das wie eine Blume auf dem groben Stoff erblühte, während der Russe in den Schlamm sank, das schmale, gewöhnliche Gesicht vor Erstaunen verzerrt, die schrundigen Lippen geöffnet. Er sah nicht anders aus als Tausende britische Soldaten. William hatte sich übergeben müssen, voller Hast, während er sich bückte, um die Klinge seines Bajonetts an einem Grasbüschel abzuwischen. Um ihn herum
Weitere Kostenlose Bücher