Der Vermesser (German Edition)
Würmern gleich trieben dunkle Wolken über den Himmel. Es würde regnen, noch ehe die Nacht hereinbrach, doch jetzt warf die rote Wintersonne ihren Schein auf das Wasser, so dass es funkelte und blitzte wie ein Schmiedeamboss. Rose hatte sich Mays Auftrag aufgeschrieben, damit er ihn nicht vergaß, und der Umschlag lag schwer in seiner Tasche. Am Morgen hatte er den Brief mit der Post schicken wollen, doch nachdem er das mit dem Bajonett erfahren hatte, hatte er es sich anders überlegt. May würde nächste Woche hängen, und seinen Namen, gleichbedeutend mit Niedertracht und Gemeinheit, würde man sich mit genüsslichem Abscheu in sämtlichen Tavernen, Kaffeehäusern und Wohnzimmern Londons zuflüstern. Mays Frau hatte Besseres verdient als einen hastig hingekritzelten Brief.
Die York Street war eine schmale ungepflasterte Straße, diagonal zwischen zwei lärmenden Hauptverkehrsadern verlaufend und eng bebaut mit Reihenhäusern. Rose kam es vor, als hätte man die Häuser erst zusammengezimmert und aneinander geklebt, um sie dann hierher zu bringen, wo man dann feststellen musste, dass man sich verrechnet hatte und der für sie vorgesehene Platz nicht ausreichte. Aber natürlich gab es in der ganzen Stadt keinen Bauunternehmer, der sich durch eine solch belanglose Nebensächlichkeit hätte abschrecken lassen, und so war die Straße einfach schräg zwischen die beiden anderen gesetzt worden, so dass sich zu beiden Seiten eine dreieckige Brachfläche ausbreitete wie ausgefranster Stoff, der unter der Naht hervorlugt. Die meisten Häuser waren klein, aber ordentlich, mit frisch getünchten Mauern und blank geschrubbten Treppen. Am hinteren Ende der Straße jedoch herrschte rege Geschäftigkeit. Rufe waren zu hören, Teekisten wurden auf die Straße hinausgetragen. Als Rose näher kam, erkannte er, dass die Tür zu Haus Nummer acht weit offen stand, und zwei Burschen mit Visagen, bei denen es einen nicht gewundert hätte, sie auf einer Anklagebank vor Gericht zu sehen, liefen hin und her und balancierten mühsam Kisten und Kästen vor der schmalen Brust. Auf dem Gehsteig war bereits ein ganzer Berg von Habseligkeiten aufgetürmt. Auf einem Bugholzstuhl lagen ein abgeschlagener Waschkrug aus Porzellan ohne die zugehörige Schüssel und ein Ziertuch mit dem aufgestickten Spruch
Trautes Heim Glück allein
. Rose blieb stehen und befühlte vorsichtig die Seidenstickerei.
»Was zum Teufel tun Sie da?«
Rose sah schuldbewusst hoch. In der Tür stand eine Frau. Ihr ungekämmtes kastanienbraunes Haar umrahmte strähnig das Gesicht, und ihre karamellfarbenen Augen waren bläulich umschattet. Vor das unförmige Kleid hatte sie sich eine Schürze gebunden. Ein kleiner Junge hinter ihr versteckte sich in ihrem Rock; seine kleinen Hände kneteten den gemusterten Baumwollstoff.
»Mrs. May?«
Die Frau kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Wer sind Sie?«
»Rose. Sydney Rose. Ich vertrete Ihren Mann.«
Die Frau runzelte die Stirn, legte eine Hand auf den Blondschopf und zog ihn näher zu sich heran.
»Ich bin sein Anwalt«, fügte Rose hinzu. »Ich war gestern bei ihm. Er hat mich gebeten, Ihnen eine Nachricht zu überbringen.«
Rose kramte in seiner Tasche. Die Frau presste die Lippen zusammen, als hätte man sie mit einer Schnur zusammengezogen. »Eine Nachricht, so. Geld bräuchten wir dringender. Das hat er wohl nicht geschickt, oder?«
»Leider nicht.«
»Dann gehen Sie«, sagte die Frau schroff, ohne sich auch nur einen Schritt zu bewegen, aber Rose spürte, dass sie zitterte. »Wie lautet die Nachricht?«
»Darf ich reinkommen?«
»Das ist wohl kaum nötig, den Großteil unserer Einrichtung haben wir ja hier draußen«, sagte sie, aber ihre Stimme hatte jetzt nichts Schneidendes mehr. Sie trat zur Seite und wies ihm den Weg in ein kleines Wohnzimmer. Es gab keine Möbel. Der Boden war sauber gewischt, aber an den Wänden hatten Kerzen rußige Spuren hinterlassen. Rose stand verlegen in der Mitte des Zimmers, die roten Hände auf dem Rücken verschränkt. Der Junge war ihnen gefolgt. Er ließ zwar den Rockzipfel seiner Mutter nicht los, versteckte aber das Gesicht nicht mehr. Den Kopf hoch erhoben, stand er vor seiner Mutter, als wollte er sie vor Roses Worten schützen, wie immer sie lauten mochten, und starrte ihn an, ohne zu blinzeln. Er hat die auseinander stehenden karamellbraunen Augen seiner Mutter, dachte Rose. Sie muss eine hübsche Frau gewesen sein, bevor die Umstände sie hatten altern lassen und sie
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