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Der Vermesser (German Edition)

Der Vermesser (German Edition)

Titel: Der Vermesser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clare Clark
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auszusetzen.
    In den Tagen nach dem Treffen mit Rawlinson erlebte William erneut die Qualen jener Morgenstunden, aber nicht an Händen oder Füßen. Seit seiner Ankunft auf der Krim hatte die einzig zuverlässige Methode, sich zu schützen, darin bestanden, nichts zu empfinden und sich um nichts zu kümmern. Das war ihm leicht gefallen. Der Krieg hatte ihn gleichsam eingefroren. Er musste nur an dieser Eiseskälte festhalten, sich in der Brust einen ständigen tiefen Winter bewahren. Bis die Hygienekommission auf den Plan trat, empfand er das als einfach.
    Rawlinson war kein warmherziger Mensch. Die humanitäre Bedeutung seiner Arbeit war ihm wichtig, sein Interesse an den Mitmenschen jedoch war eher theoretischer Natur. Er behandelte alle Männer, mit denen er zu tun hatte, mit der gleichen würdevollen und wohl überlegten Distanziertheit. Mit der Arbeit selbst verhielt es sich anders. Wenn er sich in sie vertiefte, strahlte er eine reine und rückhaltlose Leidenschaftlichkeit aus. Und mit dieser Begeisterung steckte er auch seine Männer an und weckte tagtäglich in ihnen Empfindungen, die den Soldaten so ungewohnt geworden waren wie frisches Fleisch: Neugier, Fantasie, innere Überzeugung, Optimismus und Zielstrebigkeit. William beobachtete Rawlinson bei der Arbeit, prägte sich den konzentrierten Ausdruck in den nachdenklichen Augen des Ingenieurs ein, das triumphierende Aufflackern der Erkenntnis, wenn er die Lösung für ein kniffliges Problem gefunden hatte. Abends versuchte William, diesen Ausdruck in seinem eigenen Gesicht nachzuahmen, aber obwohl er ebenso die Stirn runzeln und die Augen aufreißen konnte, verband sich diese Mimik mit nichts in seinem Innern, was ihr einen Sinn verliehen hätte. Selbst als er seine wohl gehüteten Botanikhefte aus der Tasche seines Armeemantels holte und zum ersten Mal seit Monaten die zerschlissenen Seiten durchblätterte, fühlte er nichts. Nicht das Geringste.
    Dennoch umhüllte ihn Rawlinsons Begeisterung wie ein warmer Lufthauch, der kleine Löcher in seinen sorgsam gehüteten Eispanzer schmolz. Diese Löcher erschreckten ihn. Dabei war der brennende Schmerz, den sie verursachten, nicht einmal das Schlimmste. Weit beängstigender für ihn war die Erkenntnis, wie viel mehr Schmerz er noch würde erdulden müssen, da der Winter sich so grimmig in ihm festgesetzt hatte. Rawlinsons Auftauchen hatte alles verändert. Bis dahin war sich William ganz sicher gewesen, dass es ihn kaum kümmerte, ob er lebte oder starb. Irgendwo im Hinterkopf hatte er sich sogar bereits gefragt, ob er nicht schon tot war. Nun wusste er, dass er damit völlig falsch gelegen hatte. Er war nicht nur am Leben. Er wollte leben.
     
    Das mit der Selbstverstümmelung hatte beinahe zufällig begonnen. Als Mitglied von Rawlinsons Arbeitstruppe erhielt William einmal pro Woche warmes Wasser zugeteilt. Eines Morgens bot ihm einer der neuen Hygieneinspekteure an, sein Rasiermesser zu benutzen. Sorgfältig zog es William am Lederriemen ab und hielt die Schneide ins Licht. Da brandete etwas in ihm auf, umschloss sein Herz wie eine Faust. Er biss sich auf die Lippen, legte das Rasiermesser mit zittriger Hand auf den Waschtisch und griff nach der Seifenschale, den Blick auf den aufsteigenden Schaum gerichtet, während er mit dem Rasierpinsel in der Schale rührte. Doch der Druck in seinem Innern ließ nicht nach. Er staute sich zwischen den Wirbeln des Rückgrats an, zwängte die Rippen auseinander und drängte nach außen. William hatte das Gefühl, jeden Moment zu explodieren. Seine Hände zitterten, und die Augen brannten ihm, als würden die Lider wie Schleifpapier darüberscheuern. Voller Angst hielt er sich am Rand der Porzellanschüssel fest und versuchte sich gegen diese Gefühle zu wehren, aber sie ließen nicht von ihm ab, sondern wurden immer stärker. Es gelang ihm einfach nicht, sich zu beruhigen. Der Druck in seinem Kopf nahm zu, presste gegen die zerbrechliche Schädeldecke. Er dröhnte ihm in den Ohren, schnürte ihm Kehle und Nase zu, bis er kaum mehr atmen konnte. Mit aller Kraft grub sich William die Fingernägel ins Handgelenk, wo sichelförmige Abdrücke zurückblieben, aber er spürte nichts als Schwärze, die sich nicht abwehren ließ. Voller Verzweiflung schleuderte er die Seifenschale quer durchs Zimmer. Er sah, wie sie an der Wand zerschellte, hörte es aber nicht. Und dann, wie aus weiter Ferne, als schwebte er über seinem eigenen Körper, beobachtete er, wie seine Hand nach dem

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